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Wege

Ich wollte schon lange mal einen Text über »Wege« schreiben. Ich liebe Geschichten. Auch die brüchigen, inkohärenten. Diejenigen, bei denen das ordnende Hirn immerzu nach den Zusammenhängen forscht, aber sich schwer dabei tut, welche zu finden. Wege hängen in direkter Weise mit Geschichten zusammen. Die Art und Weise, wie wir etwas betrachten und erzählen, bestimmt auch, wie wir von da aus weitergehen können, welche Türen wir uns bauen und was auf der Straße, die wir uns gepflastert haben, Sinn ergibt und was weniger Sinn.

Irgendwann habe ich hier mal einen Text darüber geschrieben, was Glück sein könnte (Was ist Glück?). Dass es schwer fassbar ist und man sich wohl auf dem Weg, den man einschlägt, um danach zu suchen, verirren wird: »Was ist Glück? Eine ungeheuerliche Frage, denn der Versuch ihrer Beantwortung führt unweigerlich an den eigenen Dämonen vorbei. Ihre Beantwortung ist eine Reise auf unwegsamem Gelände, ohne Navigation und Führung. Wer hier auf die Suche geht, wird sich verirren.« Es ist schon verrückt: In dem Moment, in dem ich mich entschlossen habe, diese Reise anzutreten, sind Türen aufgegangen, wieder andere Türen wurden verschlossen, Schatten der Vergangenheit haben sich hervorgetan, und ja, auch Dämonen zeigten sich. Und bei alledem brachen sich Gefühle bahn, gerat ins Fließen, was versteift war, taten sich ungesehen Zusammenhänge auf. Wie wunderlich! Wie erstaunlich! All diese untergründigen Wege und Verzahnungen, das kaum merkliche Fließen zwischen Menschen.

Gestern hat mir mein Bruder eine Klaviermelodie vorgesungen, die ich als Teenager oft gespielt habe. Eine einfache Melodie, die ich erfunden hatte, die irgendwie sehnsuchtsvoll und süß klang, wie die lauwarmen Sonnenstrahlen eines Frühlingstags im Nacken. Ich hatte diese Melodie vergessen. Dass diese irgendwie unbedeutende kleine Melodie, dieses Fragment eines Gefühls aus meiner Jugend, als Eindruck in meinem Bruder fortleben konnte und zu mir zurückkam, ist magisch. Wie viele solcher Eindrücke flirren durch die Welt? Was für eine unendliche Karte an Wegen und Unwegen grundiert unser menschliches Dasein, bildet das Netz unserer Zwischenmenschlichkeit? Ein so winziges kleines Detail, das Fragment eines Fragments eines Gefühls, das ich selbst schon vergessen hatte, in Form einer Melodie, zurückgekommen nach mehr als einem Jahrzehnt!

Wir können noch viel tiefer reingehen, bis zu den einzelnen Wörtern und Tönen, die wir miteinander austauschen, den kurzen flüchtigen Gesten, in denen wir ungeahnt ein Universum an Mitteilungen versenden. Was ist das für eine Welt von Wegen, die sich – wie es scheint – aus nächster Nähe potenziert und wieder potenziert? Weiß die Verkäuferin bei Subway, dass ihre ganz eigentümliche und tiefe Versenkung in ihre Arbeit und in sich selbst eine Melodie in mir zum klingen bringt, die für sich steht und als Eindruck in mir fortleben wird? Immer wenn sie fragt – im Wissen darüber, dass ich die immer mitbestellte –, welche drei Cookies es diesen Sonntagabend sein sollen, kommen Saiten in mir zum schwingen, die vielleicht in vielen Jahren einmal eine Wirkung tun und sich neue Bahnen und Ausdrucksformen suchen. Die dann vielleicht die Farbe eines ganz neuen Gemäldes sein dürfen. Weiß der Tänzer, den ich vor Jahren bei einem Physiotherapie-Praktikum bei der Genesung begleitet habe, dass seine Verzweiflung über seinen Zustand für mich eine ureigene Tiefe besaß und dass seine Bemühungen darum, diesem Zustand entgegenzuwirken, von einer zarten Schönheit waren, die so einmalig war?

Wie viel von dem, was ich heute mache, wird von dem Akkord still begleitet, den die Geräusche des Springbrunnens von sich gaben, der im Wohnzimmer meiner ersten Jugendverliebtheit stand? Wann wird der aberwitzige Ton, den der überarbeitete Wiener Kellner – kurz vor Feierabend und, so schien es, auch kurz vor dem Zusammenbruch – wieder in mir erklingen? Sein im Funktionsmodus dennoch kraftvoll daher gesagtes »Klasse!«. Wie viele, unzählbar viele von solchen Wegen, Gefühlen und Eindrücken zirkulieren in der Welt? Ist die Welt nicht voll von solchen zarten Berührungen? Und geht es hier nicht wieder – wie so oft – eigentlich um Liebe? Als Wege der Liebe, die jeden solipsistischen Schattenwurf funkelnd erhellen.

Ich glaube es gibt sie, die umfassende stille Komposition, die wir gemeinsam fortschreiben. Zu der wir alle unsere Töne hinzusingen. Eine unaufhörliche Komposition der Liebe. Nach zwanzig Jahren sagt jemand ein Wort, das eben diese zwanzig Jahre brauchte, um zu reifen und allmählich, des Wartens müde, an die Oberfläche tritt. Ein Wort, das dem, der es hört, mitten ins Herz trifft. Das in diesem Herz wächst und wächst und sich verwandelt, bis es endlich zur Tat wird. Und ist hier, auf dieser Wegstrecke, nicht irgendwie so etwas wie Glück?