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Was ist Glück?

Was ist Glück? Ich fand die Frage schon immer sehr merkwürdig. Gemeint ist ja nicht einfach ein Gefühl, das dann und wann sich auftut, um sogleich wieder zu vergehen. So wie das mit Gefühlen nun mal ist. Sondern es geht um irgendeinen abstrakten Zustand, der erstrebenswert ist. Also nicht einfach etwas, das uns überkommt, sondern etwas, das wir erreichen und vielleicht sogar kultivieren können. So wie »Freiheit« oder »Sinn« gehört »Glück« zu denjenigen philosophischen Begriffen, die zu ergründen eine Lebensaufgabe darstellt. Es sind Begriffe, die mehr noch als viele unserer Alltagsbegriffe etwas begreiflich zu machen versuchen, das sich nur im gelebten Leben offenbart, nicht aber dadurch, dass jemand mit dem Finger darauf zeigt. Und das macht ja Sprache: auf etwas zeigen.

Glück ist ein begrifflicher Fingerzeig, der auf etwas hinweist, auf das sich eigentlich nicht hinweisen lässt. Wir können zwar sagen: »Dieser Mensch scheint glücklich zu sein. Seht nur, wie selig er lächelt.« Auch an uns selbst können wir Glücksregungen und -empfindungen wahrnehmen. Aber »Glück« bezeichnet ja nicht einfach eine zeitweilige Empfindung. Oder den Ausdruck von Glück. So wie auch »Sinn« mehr meint als nur sinnvolle Ereignisse und Handlungen.

Das ist das Tragischschöne am Glück: Es besteht keine Möglichkeit, drauf zu zeigen. Es gibt keine Landkarte, die seine Position anzeigt. Es entzieht sich der Kommunikation. Wir sind alle ganz alleine damit. Was ist Glück? Eine ungeheuerliche Frage, denn der Versuch ihrer Beantwortung führt unweigerlich an den eigenen Dämonen vorbei. Ihre Beantwortung ist eine Reise auf unwegsamem Gelände, ohne Navigation und Führung. Wer hier auf die Suche geht, wird sich verirren.

Vielleicht liege ich auch falsch und Glück und Glückseligkeit sind ganz einfach zu kartografieren. Ein paar Ratschläge und Hinweise, ein bisschen Coaching vielleicht noch dazu, und schon sind wir auf Kurs. Geradewegs in Richtung Lebensglück. Irgendwann wird die Frage nach dem Glück in Gänze beantwortet sein, so wie die Erdkugel ausgemessen und die Ländergrenzen gesetzt. Dann können wir uns entspannt zurücklehnen, denn das Glück ist ja gefunden. Niemand muss mehr auf die Suche gehen, denn es ist ja verzeichnet.

Wiederholt habe ich gehört, dass das Rezept für eine glückliche Liebesbeziehung »Kommunikation« sei. Das scheint zumindest momentan der Trend zu sein. Ganz viel Reden. Jede Unsicherheit durch ein Wort ausmerzen. So viele Worte, Karten, Vereinbarungen und Sicherheiten produzieren, dass keine Restangst mehr bleibt: Diese Verbindung wird bestehen. Glück ist Übereinkunft. Glück ist vermeintliche Gewissheit. Beständigkeit, Intimität, Vertrauen, Nähe, Zusammenhalt: alles Glück und alles erhältlich durch viel Gerede.

Mein Gegenüber hat sich mir so sehr mitgeteilt, dass ich es einschätzen kann. Ich habe endlich eine Karte von dem Menschen. Die Karte sagt voraus, dass er zurückkommen wird, nachdem er aus der Tür gegangen ist. Falls die Zeichnung meiner Karte akkurat war. Was ein Glück! Schnell noch ein Küsschen und dann beruhigt und verzaubert von all’ den gesagten Worten im Gefühl der Gewissheit verweilen. Das nennt sich dann Vertrauen oder Intimität oder sogar Nähe.

Und so reiht sich im Fortlauf des Lebens ein Küsschen an das nächste.

Wie würde ich aber küssen, wenn ich keine Gewissheit hätte? Wie würde ich mein Leben leben, wenn sich keine Karte dafür anfertigen ließe?

Aber warum so extrem? Wer reif ist, sucht den Mittelweg? Wer weise ist, bringt Freiheit und Sicherheit in Einklang statt sie gegeneinander auszuspielen? Ich glaube, da ist was dran. Aber immer nur im Verhältnis. Wer nach Lebensglück oder Lebenssinn sucht, kommt wohl nicht daran vorbei, auch sein Leben in die Waagschale zu werfen. Jeder Kuss kann der letzte sein. Wenn ich mir eingestehe, dass die Karte meiner Wirklichkeit nicht die Wirklichkeit selbst ist, dann ist jeder Kuss der letzte, sowie der erste. Und der geküsste Mensch ist unendlich.

Also: Was ist Glück?