Klassenbewusstsein

Im kürzlich erschienen Sachbuch »Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher« räumt Ciani-Sophia Hoeder mit dem Märchen von der Chancengleichheit auf. Das Buch ist eine Zusammenstellung so gut wie all’ der Mythen und Narrative, die vermeintlich rechtfertigen, warum es die Einen gibt, die mehr vom Kuchen abbekommen und die Anderen, die weniger abbekommen. Hoeder zeigt auf, warum diese Mythen nicht stimmen oder die Narrative einer Korrektur bedürfen.

Feministisch und politisch geschult, argumentiert die Autorin stets, in dem sie ihre eigene Sprechposition offenlegt. So ist das Buch keine abstrakte Belehrung oder Abhandlung voller ideeller Argumente, sondern bleibt nahbar. Doch worum geht es?

Viele der Entwicklungen unserer Zeit lassen sich besser verstehen, wenn wir sie mit einem Klassenbewusstsein ins Auge nehmen. Also ein besseres Gespür dafür bekommen, warum manche Menschen Geld haben und andere nicht. Die meisten Menschen – so die Beobachtung der Autorin – glauben, dass sei aus diversen Gründen so: jemand hat weniger Geld, weil er oder sie sich nicht genug anstrengt; weil er oder sie nicht so klug ist; weil er oder sie einfach Pech hat; und so weiter. Dabei legt Hoeder deutlich und in einfacher Sprache dar, dass es eine systemische Bevorzugung und Benachteiligung gibt. Und dass Ungleichheit nicht naturwüchsig ist, sondern durchaus gemacht. Das heißt auch: es lässt sich etwas daran ändern.

Hoeder ruft dazu auf, sich nicht aus der Verantwortung zu entziehen und zu sagen: »Wo ihr Klassen seht, sehe ich nur Menschen.« Ähnlich der Aussage: »Wo ihr Hautfarben seht, sehe ich nur Menschen«. Was sich als antirassistisch oder antiklassistisch gibt, ist im Grunde das Gegenteil. Es ist ein Wegsehen. Untergründig bleiben Klassen dennoch eine handlungsleitende Kategorie. Dabei sind Klassen nicht nur an Geld geknüpft:

»Klasse ist nicht nur Geld. Es ist Wissen, Zugang zu Informationen und Institutionen, aber auch der entsprechende Look, um von mächtigen Institutionen wie Stiftungen unterstützt zu werden.«

Ciani-Sophia Hoeder: Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher. S. 142.

Das ist so wahr! Ich selbst kann ein Lied davon singen, wie unsichtbar Klasse ist. Und wie subtil die Marker der Klasse sind. Jede Bemühung darum, diese für eine breitere Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu bringen, ist an sich schon lobenswert! Hätte sich nicht der Zufall für mich ergeben, während des Abiturs eine Beziehung mit einer Partnerin einzugehen, die in einem Haushalt der Mittelklasse aufgewachsen ist, hätte ich nie studiert. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen. Ich hätte nicht einmal gewusst, was das bedeutet. »Hörsaal«, »Dozenten«, »Seminar«, »BAföG« sind einige der Wörter, die Wege und Räume aufschließen, die nicht einmal in der Nähe meines Blickfelds lagen. Es waren nicht nur die Wörter, die ich gelernt habe, die es mir erlaubt haben, mich später in der Uni zurechtzufinden. Es war auch die Fähigkeit, diffuse Gedankenströme, Impulse und Gefühle irgendwie wenigstens ein bisschen sortieren und benennen zu können.

In einem Haushalt ohne Routinen, die Hausaufgaben zwischen Tabakresten und lauter Musik hinschmierend, bleibt nicht viel Raum, seine Gedanken zu sortieren. Berechnungen, die hier stattfinden, haben höchstens mit der Tankfüllung und den noch verbleibenden Tagen bis zur nächsten Gehaltsauszahlung zu tun. Alles, was mit Politik zu tun hat, ist von dieser Lebensrealität aus betrachtet, abgehobenes Kauderwelsch. Eine politische Diskussion ist (elitäres) Geschwafel. Es hat wirklich nichts mit Verweigerung oder Widerwillen zu tun. Einer bestimmten Klasse angehörig lebt man einfach in einer ganz anderen Welt. Manche Dinge existieren schlicht im eigenen Blickfeld nicht. Da kann man noch so begabt sein und sich noch so viel Mühe geben. Für mich konnte sich jedenfalls erst durch eine Partnerschaft der Blick weiten. Allmählich hat sich dann das entwickeln können, was auch Hoeder mit ihrem Buch versucht zu bilden: ein »Klassenbewusstsein«.

Um den Ungerechtigkeiten einer Klassengesellschaft entgegenzuwirken brauche es, so die Autorin, ein solidarisches Miteinander und vor allem ein Eingeständnis darüber, dass es so etwas wie Klassen gibt. Endlich mal abzusehen von all’ den Ausreden und Alibis. Dazu gehört zum Beispiel auch, anzuerkennen, dass Bildung keine »Wunderwaffe« für die Armen ist, sondern

»ein Albtraum. Zumindest für die Klassen, die durch dieses System benachteiligt werden. Für alle anderen ist es genau das, was sie brauchen. Eine vermeintlich externe Institution, die ihnen die Erlaubnis gibt zu walten, zu richten, zu informieren, zu regieren, zu führen. Als Sahnehäubchen kriegen sie auch noch mehr Geld, Prestige und Anerkennung. Es lässt die Elite die Elite bleiben. Keiner stellt das infrage, weil wir denken, dass wir ja grundsätzlich alle dieselben Chancen haben. Der eine gewinnt, der andere verliert halt.«

Ciani-Sophia Hoeder: Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher. S. 90.

Die Autorin selbst sieht sich als »Vermittlerin«. Sie kennt die Perspektive des Prekariats ihrer Herkunft wegen. Hat sich aber durch ihr Studium und ihren Job als freischaffende Autorin an die Mittelklasse angepasst. Gerade solche Menschen seien es, die über Klasse schreiben:

»Wir sind es, die das Bedürfnis haben zu vermitteln. Zu erklären, zu lösen. Wir kennen beide Welten und wissen, dass wir Menschen ähnliche Bedürfnisse haben, egal wo wir herkommen.«

Ciani-Sophia Hoeder: Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher. S. 109

Mit einem Blick nach oben auf die wirklich Reichen, die vielleicht nicht nur ein Haus erben, sondern ein Milliarden-Unternehmen, fühlt sich jeder benachteiligt. Zu Recht. Die Superreichen sind ein Problem, beziehungsweise deuten auf eine Systemschwäche hin. Aber um so etwas wie Klassenbewusstsein zu schaffen, sei es nötig, die eigene Stellung, ohne den Blick nach ganz oben, zu reflektieren und den Kontakt zu Menschen zuzulassen, die vielleicht gar nichts erben.

So wie für mich der ganze universitäre Lebensweg ein blinder Fleck war, ist für einen Großteil der Mittelschicht das Leben im Prekariat ein blinder Fleck. Und zwar nicht in ein paar wenigen Punkten, sondern in seiner ganzen Dimension. Aussagen wie »Im Studium musste ich mich von Nudeln mit Tomatensoße ernähren und einen Nebenjob bestreiten« haben eine ganz andere Bedeutung, wenn sie von jemandem kommen, der oder die zur Not zurück ins Elternhaus kann, wenn es mal nicht reicht, übergangsweise finanziell unterstützt wird, wo vielleicht ein Erbe wartet, und so weiter –, oder ob sie von jemandem kommen, der oder die gearscht ist, wenn das BAföG-Amt aus unerfindlichen Gründen weniger zahlt. Hier ein bisschen Bewusstsein zu schaffen, könnte vielleicht wirklich – im Gegensatz zur verklärten Bildung – Wunder wirken.

Für mich war es jedenfalls auch nicht das Bildungssystem, das mir Räume aufgeschlossen hat. Im Gegenteil. Erst der zwischenmenschliche Kontakt hat mir das ermöglicht. Und vielleicht noch das Internet.

Ich selbst hatte dann später das Glück – nachdem ich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es so etwas gibt – ein Stipendium zu ergattern. Juhu! Dann kam auch bald schon der Brief mit Glückwünschen und einer Einladung zur Feier der Stipendienvergabe. Mit Dresscode. Zumindest feierlich sollte man sich anziehen. Und auf dem Foto der Stipendiaten des Vorjahrs hatten alle Anzüge an. Na toll! An dem Termin werde ich dann zufällig »krank« sein. Hust! Dass solche Events vor allem dafür da sind, Networking zu betreiben, musste ich auch erst lernen. Es ist eine von vielen Situationen, wo ich in Anbetracht der Mittelklasse-Standards die Wahl zwischen geschickt anpassen oder ausweichen hatte. Dabei wäre es viel schöner, in einer Welt zu leben, in der solche Standards zumindest kritisch beleuchtet werden würden.

Mein heutiges Ich wäre in seiner blauen ausgewaschenen H&M-Cargo-Hose und dem schwarzen Drei-Euro-Shirt trotzdem auf der »Feier« zur Stipendienvergabe aufgekreuzt und hätte »Party« gemacht. Es gibt nämlich auch Menschen, die ein Stipendium aus Dringlichkeit beantragen und nicht, weil es den Lebenslauf aufpoliert. Menschen, die das meiste davon zurücklegen, weil nach dem Studium 10.000€ BafÖG-Schulden warten. Und wenn die sich im Anzug verstecken oder fernbleiben, bleibt Klasse unsichtbar. Sie bleibt aber auch unsichtbar, wenn weiter Ausreden, Rechtfertigungen und Alibis gesucht werden, statt die Augen aufzumachen.

Wer Lust hat, die Dimensionen von Klasse etwas deutlicher in den Blick zu bekommen (zum Beispiel auch, wie sich Klassen auf Dating auswirken), dem sei Ciani-Sophia Hoeders Buch ans Herz gelegt: