Schädeldurchbohrung

… oder die Genese einer überheblichen Stimme

Mit voller Wucht warf der kräftige Mann den Speer in Richtung seines Feindes. Sein Arm entschieden bis zum Anschlag ausgestreckt. Seine Augen energisch und zweifelsfrei auf ihr Ziel gerichtet. Holz wirbelt durch die Luft und durchbohrt in gnadenloser Präzision die Knochen eines Schädels. Das Gesicht des Feindes von einem Punkt zwischen den Augen ausgehend unwiderruflich zerstört. Hinter dem zerschmetterten Weiß des Schädelknochens das durchbohrte Grau einer Masse, die mal ein Hirn gewesen sein muss. Nach ein bis zwei Metern des Eindringens hat der Speer endlich seinen Ruheort gefunden. Die Bewegung ist vollendet. Das Handwerk getan. Der Speer fällt zu Boden. Und mit ihm ein Kopf, Träger eines jetzt unkenntlichen Gesichts.

Brüllende Hüter des Wissens

Manchmal gibt es im Leben diese eigenartigen Kipppunkte. Wo eine innere noch diffuse Bewegung als Urteilsbildung zu einem Abschluss kommen durfte und eine neue Richtung sich begründen konnte. Ein neuer Wert hat sich aufgetan. Für mich war einer dieser Kipppunkte das unwiederbringlich zerstörte Vertrauen in die durch Titel legitimierten Autoritäten und die durch Geschichte legitimierten Institutionen.

Als ich eingeschult wurde, war ich voller Respekt gegenüber dieser großen Welt und den Erwachsenen vor der Tafel, den Hütern des Wissens. Es hätte für mich persönlich auch keine Lehrer gebraucht, die zur Strafe an Ohren ziehen (wie es in meiner Grundschule ab und an vorgekommen ist). Ich war sowieso schon eingeschüchtert. Die Angst habe ich noch gratis dazu bekommen. Aber ich wollte mich gut stellen, habe mein Bestes gegeben, um mit meinen Mitteln den Anforderungen gerecht zu werden, war angepasst, brav und mucksmäuschenstill. Am Anfang war ich ein guter Schüler, weil ich neugierig, aber vor allem harmonie- und gefallsüchtig war und meine Angst vor den Großen jede vernunftgemäße Auflehnung verhindert hätte.

Dann kam eine Enttäuschung nach der anderen. Früher fand ich es brutal, wenn ein erwachsener Mann ein Kind anbrüllt. Heute finde ich diesen Grad an mangelnder Selbstbeherrschung einfach nur bemitleidenswert und verstehe, warum ich aufgehört habe, auf das historische oder mathematische Wissen von Männern irgendeinen Wert zu legen, die es für nötig halten, in einem ohnehin schon faschistisch anmutenden Setting kleine Kinder in Grund und Boden zu schreien. Ein »Politikkenner«, der vor großen aufnahmefähigen Kinderaugen unbedingt klarstellen musste, dass »alle Hauptschüler dumm« seien. Bloßstellungen vor den Augen aller. Szenen der Demütigung. Benotung von vermeintlicher Leistung.

Die Liste der inhumanen Ereignisse und institutionell organisierten Praktiken ist lang. Und dennoch wollte ich das System, dem ich doch angehörte, irgendwie noch gutsprechen: Die Fehltritte der Großen sind, wenn auch schwer nachvollziehbar, menschlich und haben bestimmt auch ihre Geschichte. Die Praktiken sind die zu diesem Zeitpunkt bestbewährten. Jeder tut bestimmt das – in seinem Rahmen – bestmögliche.

Auch wenn ich die meiste Zeit über gar nicht mehr verstanden habe, worüber geredet wurde, meine Noten ins Bodenlose gesunken sind und meine Harmonie- und Gefallsucht sich allmählich – jedes Erfolgs und Lobs entbehrend – in Lethargie verwandelte: Der Kipppunkt war auch hier noch nicht erreicht.

Mein Kipppunkt

Erst als Folgendes passiert ist, habe ich der Institution, und allen die daran mitwirken, den Krieg erklärt:

Mein kleiner Bruder, energiegeladen, überbordend einfallsreich und fantasievoll, tatkräftig und mit einem sensiblen Gespür für Gefühle, hat eine Geschichte oder einen Aufsatz geschrieben, der nicht bloß mit der schlechtesten Note bewertet wurde, sondern die Lehrerin dazu veranlasste, ein Krisengespräch mit unserer Mutter führen zu müssen. Anlass war die detaillierte Beschreibung eines Speers, der einen Kopf durchbohrt. Der Text war gut geschrieben. Besonders die besagte Szene war eindrücklich, aufwühlend und sprachgewandt formuliert. Nirgends wurde eine ethisch diskutable Bewertung der Szene vorgenommen. Sie war in vollem Sinne Fiktion. Und doch war die Empörung groß: Wie kann man nur? Wie kann ein junger Mensch derart verroht und verzogen sein? Das schreit förmlich nach einem Krisengespräch und einer Schelte!

Als ich das mitbekommen habe, war für mich der Kipppunkt endgültig erreicht. Jedes Wohlwollen hat sich in Verachtung verkehrt. Vielleicht spielt da der »Beschützerinstinkt« des großen Bruders mit rein. Der Text war weder schlecht noch verwerflich noch anstößig. Eine derart interessante Geschichte, die gelungene Sublimationsleistung eines Heranwachsenden aufgrund von Empörung mit der schlechtesten Note und einer Rüge zu bestrafen, ging und geht in meinen Kopf nicht rein. Die Geschichte bietet Stoff für anregende Gespräche über drastische Bilder, über die Abbildungsleistung von Literatur oder über Ethik in Bezug auf bellizistische Sprache. Hier hat dann die grandios-überhebliche und arrogante Stimme in mir ihre Lautstärke angehoben und gewissermaßen immer öfter die Regie übernommen. Denn das Urteil der Großen schien mir von da an nichts mehr Wert zu sein.

Diese bürgerliche Machtgeste einer eigentlich einfach nur unsensiblen Deutschlehrerin einer Dorf-Realschule war das Eine-Mal-zu-viel, das mein Wohlwollen zum Kippen brachte. Das veranlasste Krisengespräch war dreist. Die klassistische Überheblichkeit der Empörung ist bis heute verachtungswürdig und mir fehlen die Worte, um dieses frigide Gieren nach einem Skandal einzuordnen, das sich hinter dem Deckmantel der Sittlichkeit zu verbergen versuchte. Es war, wie gesagt, das Ende einer langen Kette vergleichbarer Ereignisse. Die arrogante Bevormundung des mahnenden Gesprächs war eine Kriegserklärung: gegen die Sprache, den Erziehungsstil, das Geschmacksempfinden und vielleicht subtiler auch die Lebensweise und Erfahrung von Wirklichkeit meines Milieus.

Es schickt sich wohl nicht, über Blut, Scheiße oder Sex zu schreiben. Und auch nicht darüber zu reden. Menschen ficken nicht, sondern »schlafen miteinander«. Kinder haben keine Sexualität, können die Wahrheit von Tod und Verbrechen nicht verkraften und gehören in eine Wolke epistemischer Ungenauigkeit gehüllt. Wegsehen ist das Credo. Und wenn ein kleiner Junge die unabänderliche Wahrheit der Sterblichkeit poetisch verarbeitet, gehört das abgestraft! Wie kann dieser kleine unbedeutende Mensch es wagen, mit Worten die so liebgewonnene Wolke infrage zu stellen? Aber zum Glück gibt es institutionell legitimierte Macht. So kann man den Schmutz schnell wieder wegspülen.

Der Wunsch, dazuzugehören

Mein Bild und meine Erinnerung der alarmierten Lehrerin ist sicher überzeichnet. Aber es geht ja auch nicht um dieses eine Ereignis. Es geht um die Vielzahl solcher Ereignisse, die mich zu einer inneren Kriegserklärung und äußeren Kapitulation gezwungen haben. Gezwungen, weil ich eigentlich sehr lange noch den Wunsch hatte, dazuzugehören und Teil dieser Erwachsenenwelt zu werden. Einer Welt, der ich unbedingt vertrauen wollte. An deren Güte, Empathiefähigkeit und epistemische Aufrichtigkeit ich so sehr glauben wollte und nach jedem weiteren Fehltritt, nach jeder Demütigung, Bevormundung, jedem Machtmissbrauch, jeder autoritären Gewaltanwendung wollte ich dennoch der versöhnlichen Stimme in mir Gehör schenken. Bis der Kipppunkt erreicht war. Bis der Wunsch nach gesellschaftlicher Verankerung abgelöst wurde durch die schärfste und überheblichste, wenn auch unausgesprochene, Kritik. Es gehört schon viel Überheblichkeit dazu, sich gegen ein System, gegen eine gängige Meinung und auch gegen eine Vielzahl an Autoritätspersonen zu stellen, wenn man wirklich nichts vorzuweisen hat. Und doch sah ich mich gezwungen, diese innere Revolution geschehen zu lassen. Für mich hätte es keine andere Option gegeben.

Den größten Erfolg hätte ich wohl gehabt, wenn ich mit meinem Milieu gebrochen und die Position der Machthaber übernommen hätte: »Ja, Hauptschüler sind alle dumm (so einfach ist die Welt)!«, »Genau, was für ein anmaßender und alarmierender Text meines kleinen Bruders!«, »Pfui!«. Hätte ich diese anbiedernde Wendung in mir vollzogen, die Täter erfolgreich introjiziert, dann hätte ich zumindest nicht das andauernde Spannungsgefühl eines Kampfes fühlen müssen.

Aber die Erfolgsgeschichte vom natürlich begabten Kind, das das Nest seiner bildungsarmen Herkunft verlässt und überflügelt ist grundfalsch und sogar fatal! Es sollte im Leben nicht darum gehen, das Beste für sich selbst rauszuschlagen, sondern das Beste für alle. Und wer sich aufmacht, um endlich mal auf einer Machtwelle zu reiten, die ihm oder ihr sonst immer ins Gesicht gepeitscht ist, spielt einfach nur das gleiche gewaltvolle Spiel. Mit Blut erkaufter Erfolg ist kein Erfolg. Und mittlerweile lasse ich die Ausrede nicht mehr gelten, dass es dort keine Gewalt gibt, wo man das Blut nicht sehen kann. Es gehört schon ein ausgefeiltes Set an aktiven Strategien der Verleugnung dazu, um die Ungerechtigkeiten nicht mehr wahrzunehmen. Man kann sich an alles gewöhnen.

Heute kann ich sagen, dass dieses Schulsystem mir meine Kindheit und Jugend weitestgehend versaut hat und ich spreche jeden schuldig, der daran mitgewirkt hat. Heute darf ich als ausgelernter Literaturwissenschaftler sagen (wie heuchlerisch, dass ich heute darf), dass der Text meines kleinen Bruders wirklich gut war und ich werde zumindest angehört (natürlich nur, wenn ich nicht zu oft »Scheiße« sage). Heute kann ich sagen, dass ich es bedaure, dass die überhebliche Stimme in mir so laut werden musste, nur um nicht der übermächtigen Entwürdigung Einlass in meine Psyche zu gewähren, die ich tagtäglich durch dieses System und die es stützenden Menschen erfahren habe. Es gibt für mich mittlerweile auch keine Entschuldigung mehr für all’ die brüllenden Menschen, die ihre Macht missbraucht haben und ich habe auch die Lust daran verloren, unreflektiert autoritatives Gebaren irgendwie zu erklären oder versöhnlich umzudeuten.

Aber die schärfste Kritik richtet sich gegen die Heuchelei der bürgerlichen Moral. Es gibt so viele Vorstellungen davon, was richtig und was falsch ist, wie sich jemand auszudrücken hat und wie nicht, die einzig zur Sicherung der gesellschaftlichen Stellung und der damit einhergehenden Macht dienen. Wer erst einmal ein Gehör für diese Funktion des Ausdrucks bekommt, wird fortan auch ihr Echo vernehmen: Machtsicherung, Machtsicherung, Machtsicherung … Subtile Legitimationspraktik von Herrschaft. Ausdruck einer neurotischen affektiven Verarmung. Aber doch – wie eine beeindruckende Uniform – das Aushängeschild für Autorität.

Eingekotet? Keine Sorge!

Und auch wenn ich ein Klischee damit bediene, so will ich mir diesen einen Absatz rachsüchtiger Worte zuletzt nicht verkneifen:

Die brüllenden Hüter des Wissens, die machtgeilen Widerkäuer von Autorität erreichen zwar, was sie wollen: die Leugnung ihres alternden Fleisches und ihrer Sterblichkeit, außerdem die Legitimation von Herrschaft und das wohlige Gefühl von Sicherheit und Reinheit. Sie werden aber auch nie eine Ahnung davon haben, was es bedeutet, wirklich unschuldig dumm und unbeschwert naiv zu sein. Und schon gar nicht davon, wie es ist, in diesem Zustand schwerelos die unbeholfen rohen Schritte eines selbst erfundenen Tanzes zu der Musik von Pur, Nena oder Céline Dion zu tanzen. Wie es ist, nichts zu verlieren zu haben, außer diesen einen Abend. Angetrunken unter dem Sternenhimmel. Einen Text zu schreiben, der voller »Fehler« ist, aber direkt aus den Eingeweiden kommt. Ein schiefes Lied zu singen, das dem ganzen Dasein entspricht. Auf kleine Fehler und Fehltritte zu scheißen. Zu Improvisieren. Diese Erfahrung ist denen vorbehalten, die Aufsätze von Schädel zertrümmernden Speerwürfen schreiben. Der Stock im Arsch des Bildungsbürgertums muss auf Dauer echt unangenehm sein – Pech gehabt! Und der analfixierte Charakter einer solchen Gesellschaft wird sich spätestens dann desavouiert erfahren, wenn er sich in hohem Alter eingekotet wiederfindet. Aber keine Sorge, hier kommt dann die Altenpflegerin zur Hilfe, deren Sohn Geschichten von zerberstenden Schädeln schreibt.