Woman throws colors on straight grid

Kinderfragen

Aus einem Kinderherz heraus artikuliert sich die Frage: »Warum müssen die einen so sehr kämpfen, strampeln, sich abmühen und über Wasser halten, während die anderen sich ohne viel Zutun ausruhen dürfen und sich dann auch noch mehr herausnehmen dürfen?« Das Kind gehört vielleicht selbst zu den Kindern, die – nachdem die Herzensfrage ausreichend bearbeitet und zurechtgebogen wurde – ein Eis kaufen kann, während andere Kinder hungern.

Das Kinderherz wird nach Antworten suchen. In der Regel nicht nach solchen, die die realen Umstände offenlegen und beschreiben würden, wie also Herrschaft historisch zustande gekommen ist und sich verfestigt hat, sondern nach solchen, die das Gefühl der Schuld abmildern oder ganz tilgen. Das Gefühl ist nämlich unerträglich, stellt es doch das eigene gerade erst erwachende Selbstbewusstsein fundamental in Frage. Aber es muss die Beunruhigung in seinem Selbstverständnis nicht lange erdulden. Die Erwachsenen haben hier – was für ein Glück – ganze Arbeit geleistet und über Jahrhunderte hinweg ein ganzes Arsenal an Erklärungen aufgeboten, das von der Schuld erlöst.

Spiel / Wirklichkeit

Das Kind lernt zuerst einmal, nicht mehr in Möglichkeiten zu denken, sondern in Gegebenheiten. Das bedeutet, es bekommt zu verstehen, dass es Spiel und Wirklichkeit gibt und beide getrennt voneinander zu betrachten sind. Hier die Fantasie, dort die Wirklichkeit. Der König mit der Krone auf dem Thron, der auf dem Kindergeburtstag Süßigkeiten vertilgt, tut nur so, als ob er König wäre; der König mit der Krone auf dem Thron, der in der großen, schier grenzenlosen Welt der Erwachsenen auch Süßigkeiten vertilgt (und vielleicht dazu noch ein paar Mätressen) ist schlicht und einfach König. Gegebenheit statt Möglichkeit, Wirklichkeit statt Spiel.

Sobald das gelernt ist, wird es einfach. Alles, was noch an Bildung folgt, türmt sich ganz unkompliziert auf diesen Grundstock auf. Deswegen ist es im weiteren Lebensverlauf auch besonders wichtig, nicht an diesem Fundament zu rütteln. Spiel und Wirklichkeit müssen immerfort voneinander getrennt werden, um zuallererst von der Schuld zu erlösen und – je nach Stellung – Privilegien zu legitimieren. Diejenigen, die diese grundlegende Trennung nicht nachvollziehen, müssen in irgendeiner Weise für verrückt oder gefährlich erklärt werden. Sie sind ja auch gefährlich: als eine konkrete Mahnung an die sich im Kinderherzen ursprünglich artikulierte Frage und deren eigentlich unerträgliche Antwort: ich bin Schuld. Es gibt für die Frage keine andere Antwort, die nicht sofort auch wieder die Illusion einer vermeintlichen Gegebenheit auf den Plan rufen würde, die wiederum nur ein Pflaster für das an der Frage zerbrechende Herz war.

»Es ist nun mal so, wie es ist …«

Es ist schon ironisch, dass gerade der Prozess der Reifung und des Erwachsenwerdens als eine Einführung und Aufnahme in die Realität betrachtet wird. Ein Auftauchen aus der kindlichen Naivität und Verträumtheit. Dabei müsste es genau umgekehrt angesehen werden: ein Eintauchen in den illusorischen See vermeintlicher Gegebenheiten, der einzig zu dem Zweck angelegt wurde, das eigene Bewusstsein vor konkreter Schuld zu bewahren: »Es ist nun mal so, wie es ist …«

Das Kind ist wach. Und die angebliche Wachheit des Erwachsenen ist Selbstbetrug und Ignoranz. Deren stolzes Berufen auf die Wirklichkeit ist nur ein schuldbefreiendes Narrativ.

Lust, Aggression und Chaos

Was für ein unendliches Netz aus Lügen spinnt sich um die einfache Tatsache, dass ich selbst auf Kosten anderer lebe? Eine ganze Kultur verdeckt diese das Selbstverständnis zernichtende Wahrheit. Kultur ist nicht das Bollwerk gegen unbändige Lust, Aggression und Chaos. Wo ist denn eine Lust gebändigt, die das Verspeisen eines Eises erlaubt, während Mitmenschen hungern? Wo ist die indirekte Aggression dahinter gedämpft? Wo ist denn die männliche Lust gedämpft, die sich über Jahrhunderte in der Institution der Ehe die Frauen hat Untertan machen können? Eine gedämpfte, regulierte Lust, die Vergewaltigung in der Ehe gesetzlich legitimiert hat? Die es hervorgebracht hat, dass eine Frau, ein Mensch, als Objekt betrachtet werden kann? Und von der weiblichen Lust ist gar nicht erst die Rede.

Die Verschleierung der Kultur macht erst die Lust maßlos. Sie bedingt und erlaubt die Maßlosigkeit der Lust. Sie errichtet einen Apparat von abstrakten Differenzierungen und vermeintlichen Tatsachen, der es möglich macht, Gefühle nicht zu fühlen. Und deshalb muss die Lust ins Maßlose sich steigern, um überhaupt noch etwas Fühlbares zu erreichen. Und auf der anderen Seite naturalisiert sie die angebliche Unlust der Frau und produziert eine Tabuzone fehlender und falscher Begriffe. Sie macht erst die Aggression unerkennbar, unverhandelbar und ohne Reaktion, aber sie hegt sie nicht ein. Und wenn das Chaos im Menschen naive Kinderfragen, Mitgefühl und Ausdruck bedeutet, dann hat die Kultur hier wohl tatsächlich ein wirksames Bollwerk errichtet. Glückwunsch dazu!

Nur aus einer privilegierten Position heraus lässt sich behaupten, die Regulation sei befriedend. Sie versichert ja das Privileg, aber auf Kosten einer Narkotisierung des eigenen Selbst, auf Kosten eines totalitären Verschlusses des eigenen Kinderherzens und seiner Fragen und Gefühle. Aus der Position der Unterdrückten heraus sieht überhaupt nichts nach Regulation aus. Der Unterdrückte erkennt die Aggression auch noch in ihrer erkalteten Form.

Ich denke, es ist nicht – wie zunächst zu vermuten ist – deshalb so schwer, sich den Selbstbetrug einzugestehen, weil die eigenen Privilegien und die eigene Bedürfnisbefriedigung fortan in Gefahr stünden, sondern weil jenes fragende Kinderherz und alle daran gekoppelten Gefühle wieder zum Leben kommen dürften, die doch besser verschüttet geblieben wären: Gefühle unerträglicher historischer und privater Schuld, aber dahinter auch Mitgefühl und Gefühle der Verbundenheit.

Verlorene Verbundenheit

Überall wird der Wunsch laut, wieder mehr zu spüren. Die Technik, besonders das Smartphone, sollen dafür gesorgt haben, dass wir uns wieder nach Natur sehnen, achtsamer werden wollen, in Kontakt mit unseren Gefühlen kommen möchten.

Es gibt gar keine Natur da draußen in der Welt. Da draußen ist sowieso alles Natur und nichts. Aber wir projizieren unsere gespaltene Befindlichkeit auf die Welt. Und meinen dann, unserer gestörtes Weltverhältnis komme durch irgendwelche Erfindungen oder Entwicklungen zustande.

Wie sollen wir uns denn zwischenmenschlich verbunden fühlen, wenn wir unsere Mitmenschen Eis essend hungern lassen? Das ist nur möglich, indem wir sie zu einem Objekt machen, einem toten Stück Wirklichkeit. Wie intelligent! Und glauben dann, das seien ja nicht wir und es sei schon gar nicht unser Spiel, sondern die ferne unverrückbare Wirklichkeit außerhalb unserer selbst. Ursprünglich war auch diese Welt in unserem Inneren. Aber jetzt ist da dieser riesige Bereich in uns, der als ein Objekt abgetötet werden musste, als eine »Gegebenheit der Welt«, die mit uns nichts zu tun hat, die uns nichts angeht. Natürlich ist dann auch die Verbundenheit gekappt. Wir haben sie ja selbst gekappt. Nicht wegen irgendwelcher Displays. Die sind vielleicht Ausdruck davon und ein passendes Symbolbild, aber die wirkliche Entfremdung passiert im eigenen Herzen, das aufhört, Kinderfragen zu stellen.

Wie erreicht das Herz »die Rationalen«?

Es ist unglaublich schwer, mit den kulturellen Mitteln der Vernunft, der Rationalität und einer gemäßigten Haltung auf die Arroganz und Ignoranz eben jener kulturellen Mittel hinzuweisen. Wie soll man auf Lügen hindeuten, in die man sich selbst unweigerlich verstrickt? Aus der Perspektive des im Lügennetz Verstrickten ist jeder Versuch, auf die Lügen durch die Materialität von Lust, Aggressivität und Chaos hinzuweisen nur wieder ein Beweis für »primitive« Maßlosigkeit, die gezähmt werden muss, nicht aber der Hinweisgeber für unrechte Verhältnisse und schon gar nicht für unrechte Verhältnisse, die durch eine ganze Kultur kaschiert werden. Schlechte Verhältnisse übrigens für die ungerecht Behandelten einerseits, aber andererseits auch für die sich von ihrem Kinderherz Distanzierten, die fortan den gefühllosen Zustand der Entfremdung und Dissoziation leben, um nicht die ursprüngliche Schuld fühlen zu müssen, die dahinter verborgen ist. (Wie gefühlsleer und entfremdet ist denn der Sex des Mannes, der eine Institution und das Propagieren der Unlust der Frau benötigt, um seiner Lust Ausdruck zu verschaffen; einer Lust, die – da sie sich jetzt auf ein als willenlos konstruiertes Objekt bezieht, also eine lebendige Beziehung verunmöglicht – maßlos wird, weil sie in der Tiefe genauso leer und entfremdet ist, wie die von ihrer eigenen Unlust hypnotisch überzeugte Frau.) Und in Wahrheit gibt es weder die einen ungerecht Behandelten noch die anderen Entfremdeten, sondern ein einzelner Mensch setzt sich aus Beidem zusammen. Und aus allen Schattierungen und Grautönen dazwischen.

Kein rationales Argument wird ausreichen, um auf die emotionale Wirklichkeit der sich im Kinderherz artikulierten Frage hinzudeuten, ohne sie zugleich wieder zu verschütten. Deswegen braucht es eine gefühlige Sprache der Metaphorik, unklar umgrenzter Begriffe und logischer Inkohärenz. Auch in der Sprache schien es wohl wichtig, die tote Wirklichkeit repräsentiert zu sehen und das Spiel im Begriff der Metapher zu bannen. Um ja nicht auf die Idee zu kommen, dass auch die Wirklichkeit, auf die sich die Sprache bezieht, eigentlich metaphorisch – das heißt gestaltbar, uneindeutig, dynamisch, emotional, fehlerbehaftet, ein Stück weit chaotisch – sein könnte, statt tote und unbewegliche Materie, die sich dafür aber schuldfrei beherrschen lässt.

Wer macht den versöhnlichen Schritt?

Es sind nicht die Verträumten, Sensibelchen, Naiven, Verrückten und Unterdrückten jeder Art, die noch lernen müssen – ja lernen, ihr Herz aufzugeben, um in die »Realität« aufzutauchen. Die, um mitreden zu dürfen, die irrtümliche Spaltung von Spiel und Wirklichkeit mit der Axt in ihr Inneres schlagen müssen. Es sind die Privilegierten, die Dissoziierten, die an der Reihe sind, den notwendigen Schritt zu tun, um die materiellen und emotionalen Folgen zu erkennen, die ihre objektivierenden Lerninhalte haben und hatten. Die vielleicht – ihr Herz ausgrabend – wirklich einmal in die Wirklichkeit kommen, in der es keine tote Materie gibt. Auch wenn beim Graben ein schier unaushaltbares Schuldbewusstsein an die Oberfläche kommt.

Wie in einer Paarbeziehung ist es wohl manchmal notwendig, das eigene Vergehen nicht zu entschulden, also zu erklären, sondern sich den Schmerz seines Gegenübers sehend, die Unbedachtheit der eigenen Handlung sehend, von Herzen zu entschuldigen. Wie absurd wäre es hier, dem verletzten Menschen mit Vernunft, Rationalität und einer gemäßigten Haltung zu erklären, wie die Wirklichkeit beschaffen ist. Der Schmerz hat auch eine Geschichte und eine gesellschaftliche Dimension. Und das Gefühl der Schuld ist nicht, wie manche glauben, eine verinnerlichte Strafandrohung, die sich in ein Gewissen verwandelt, sondern im Grunde eine aus der Tiefe des Herzens aufsteigende Hoffnung, eine beschädigte Bindung zu heilen: der letzte Aufschrei einer untergehenden Liebe.

Befreiung

Befreiung bedeutet nicht das Kippen der Verhältnisse, sondern die Überwindung des Herrschaftsverhältnisses an sich. Eine echte Befreiung muss eine Befreiung für alle sein. Auch im eigenen Inneren. Selbst, wenn das bedeutet, die Schuld der eigenen gesellschaftlichen Position in voller Tragweite anzuerkennen. Zuletzt wird es möglich, von hier aus auch das Spiel zu erkennen und die Regeln als scheinbare Gegebenheiten wirklich einmal zur Debatte zu stellen. Die Philosophie kann dabei helfen, die Gegebenheiten als scheinhaft zu enttarnen, auch wenn sie dadurch schillernd, emotional gefärbt und destruktiv erscheint. Eine Philosophie der Zwischenmenschlichkeit statt eine der Objekte. Die Gefühle, die bei der Bewusstwerdung der eigenen Schuld, aufkommen, müssen physisch durchlebt werden. Hier hilft, wie bei einer echten Entschuldigung, kein »vernünftiges« Gerede.