Freiheit, Stacheldraht, Lust
© Björn Höller

Unbändige Lust

Schon oft ist er mir begegnet oder gleich einem rauen Sturmwind um die Ohren gehauen worden. Der ermahnende Satz: »Man muss auch manchmal machen, worauf man keine Lust hat!« Disziplin, väterliche Strenge, sich zusammenreißen, wo es nötig ist. Jetzt die Tränen noch ein letztes mal zurückhalten, die Zähne zusammenbeißen, um am Ende zu gewinnen. Ich behaupte, das Gegenteil ist wahr. Wer nach Lust und Laune handelt, gewinnt. Für sich und alle anderen.

Die unbändige Lust nach Schokolade

»Die unbändige Lust nach Schokolade« ist ein oft angebrachtes Gegenargument gegen meine Behauptung. Sie ist geradezu ein Archetyp und Urbild sinnlicher Ausschweifung, unzähmbaren Genusses. Ist eine Tafel im Haus, ist die Tafel eben schnell auch mal weg. In einem Zug. Wie von fremden Händen gesteuert. Oder wie ein unkontrollierbares Tier, das sich hat Bahn gebrochen, aufsteigend aus dem Inneren, instinkthaft nun kurzweilig die Ausschweifung befeuernd. Wer sich der Lust hingibt, hat mit Konsequenzen zu rechnen: Karies, Übergewicht, vielleicht sogar Diabetes. Hätte ich mir doch bloß den mahnenden Satz von Disziplin und Unlustnotwendigkeit einverleibt statt der Schokolade. Lieber hätte ich ein schokoladenloses Dasein gefristet, statt diese Konsequenzen zu ertragen.

Ja, das Tier in uns muss gezähmt werden! Wäre das nicht so, stünde alles und jede(r) vor der Gefahr, augenblicklich verspeist zu werden. Schokolade, der kleine noch verschmerzbare Exzess, wäre erst der Anfang. Am Ende gebiert die Lust Chaos und Zerstörung und – das Schlimmste vielleicht – macht uns vom Tier ununterscheidbar. Was für eine Gefahr! Deshalb braucht es Regulation, Ordnung, väterliches Gesetz. Zuallererst als Schutz vor der eigenen Sturm- und Verwüstung bringenden Natur.

Und auch hier würde und muss ich wieder das Gegenteil behaupten, weil ich es aus eigener Erfahrung weiß. Oder noch besser, weil das Tier in mir es besser weiß.

Lust als Rebellion

Um so lauter und mahnender ich die Stimme der Lustkontrolle in mir werden lasse, umso mehr Lust bekomme ich auf Schokolade. Meine Lust beginnt ins Unermessliche zu wachsen, geradezu zu wuchern. Das Gesetz von Verbot und dagegen sich aufbäumendem Rebellentum ist bekannt: Wenn sich etwas in unserem Inneren als unverfügbar, selten, als göttliches Sehnsuchtsobjekt in der Ferne darstellt, macht es nur Sinn, dass das Pendel in die Gegenrichtung schwingt und die Folge ein Exzess ist. Lust ist schlau. Lust ist ein innerer Kompass. Wenn ich ein Tier einsperre, entwickelt es vielleicht eine aufständige Lust nach Freiheit. Eine Lust, die so stark wird, dass jenes Tier gegen Gitterstäbe rennt, bis die Knochen brechen. »Man muss auch manchmal machen, worauf man keine Lust hat«: sich einsperren lassen, damit die Knochen nicht brechen?

Es wäre auch ein Problem, wenn sofort und ohne Umschweife alle ihrer Lust freien Lauf lassen würden. Gerade, weil das Pendel in die Gegenrichtung ausschlagen würde. Weil sich die patriarchale Stimme des Verbots so tief in uns hat eingebrannt, dass ihre plötzliche Überwindung einen enormen Befreiungsschlag bedeuten müsste. Und das würde wahrscheinlich wirklich ein bisschen Exzess und Chaos nach sich ziehen.

Wogegen wird rebelliert?

Lust ist nicht nur schlau und ein Kompass, sondern auch ein Hinweisschild. Eine Anzeigetafel für eine innere psychische Ordnung, die vielleicht im Ungleichgewicht ist. Woher kommt denn die Lust nach dem Exzess? Woher kommt das Unermessliche in der Sehnsucht nach Schokolade? Ich denke jedenfalls nicht, dass es die »Werkseinstellungen« des Menschen ist, die das Übermaß verlangt. Viel eher ist es eine nicht artgerechte Haltung. Ein Mangel hier, der eine Gier dort – ganz woanders – auf den Plan ruft. Hier Beschränkung, dort dann die Zügellosigkeit. Aber die Lust zeigt das Gefälle, die Unordnung, an. Das Tier, das gegen Gitterstäbe rennt, ist nicht falsch. Falsch sind die Gitterstäbe. Das Übermaß seiner Freiheitslust ist auch ein Hinweisschild für unrechte Verhältnisse.

Bei jeder ungezügelten Enthemmung oder bei jedem Lautwerden der Verbotsstimme, die diese Enthemmung unterbindet, ist eigentlich die Frage zu stellen: Wogegen wird rebelliert? Wo und was sind die Gitterstäbe, gegen die meine Lust rebelliert? Wobei die Ausschweifung das letzte Mittel der Rebellion ist. Karies, Übergewicht und Knochenbrüche werden wissend in Kauf genommen. Aufgrund der Dringlichkeit. Bis die Gitterstäbe fallen oder die Kapitulation erreicht ist.

Der Lust zuhören

Man muss also überhaupt nicht machen, worauf man keine Lust hat. Damit ist niemandem geholfen. Vielleicht macht es sogar Sinn, genau das zu machen, worauf man Lust hat? Und vor allem der Lust zuzuhören! Der Kritik und dem Aufstand in ihr Gehör schenken. Statt sich zu schelten, Notiz davon zu nehmen, dass es eigentlich erst die scheltende Stimme war, die das Übermaß provozierte. Wo es keine Unterdrückung gibt, braucht es auch keine Rebellion.

Die Lust ist viel tiefgründiger als ihre Abmahner und Kritiker. Sie greift auf ein uraltes Wissen zurück, das in Körpern und gelebten Leben sich fortschreibt. Und das Wichtigste zum Schluss: Lust findet ihr Maß selbst, wenn oder sobald man sie lässt.