Der Philosoph Friedrich Nietzsche hatte die Fähigkeit, mit wenigen Worten die gewohnte Wahrnehmung in Frage zu stellen. Gleichzeitig wusste er, wie sehr diese Gewöhnung auch von der relativen Unbeweglichkeit der Sprache abhängt. Er wusste, dass, umso mehr er sich auf die traditionelle Verwendungsweise der Sprache einlässt, die Infragestellung der durch sie erstarrten Denkweisen auch umso schwieriger würde. Deshalb hat er einen unverwechselbaren Stil gefunden: schrill, voller Ausrufezeichen und typografischer Auszeichnungen, melodisch bis in die Buchstaben. Er schrieb in »Aphorismen«, kurzen eigenständigen Absätzen. Seine Aphorismen sind prägnant und herausfordernd. Sie sind kleine Nadelstiche in der Oberfläche vermeintlicher Gewissheiten.
Unter diesen Nadelstichen gibt es viele, die auch heute noch mindestens zum Denken anregen. Es lohnt sich, manche davon noch einmal herauszukramen. Nicht, weil sie so rebellisch daherkommen, sondern weil sie ein Angebot für einen neuen Blickwinkel sind. Wenn wir so vollkommen absorbiert sind von unseren eigenen Automatismen und üblichen Gedankenketten, hilft schon ein kleiner gedanklicher Nadelstich, um die Kette zu stören. Das kann befreiend sein!
Ein solcher herausfordernder Gedanke kommt in einem etwas längerem Aphorismus Nietzsches zum Ausdruck: »Vom ›Genius der Gattung‹«. Nietzsche befindet sich in Hochstimmung. Kurz zuvor ereilt ihn ein Gedanke, der von einem solchen Schwergewicht ist, dass er das gesamte Dasein in neuem Lichte sieht. Ein Gedanke, der ihn voll und ganz überwältigt, zu Tränen rührt und von nun an nicht mehr loslassen wird, geradezu ein Anker für sein weiteres Leben sein soll. Um diesen Gedanken geht es hier jetzt noch nicht. Aber um ein notwendiges Vorspiel dazu!
Zu Nietzsches Lebzeiten haben sich Philosophen noch intensiv mit »Erkenntnistheorie« beschäftigt. Mit der Frage, was wir wissen können. Kurz: Was ist Wirklichkeit und was nur eine Täuschung? Auch Nietzsche hat sich viel mit solchen Fragen beschäftigt. Was ihn allerdings auszeichnet, ist die Vehemenz, mit denen er die Erkenntnisfähigkeit des Menschen an sich unter Beschuss genommen hat. Und damit auch seine eigene. Seine Aphorismen mögen zunächst wie schnelle Antworten auf komplexe Fragen daherkommen. Wer sich in Nietzsches Leben und Werk vertieft hat, weiß aber, dass es wenige Autor*innen gibt, die so dermaßen kritisch mit jeder eigenen Schlussfolgerung umgegangen sind. Kritisch bis in den permanenten Selbstwiderspruch, bis in die Haltlosigkeit, bis in den Wahn …
Im besagten Aphorismus, »Vom ›Genius der Gattung‹«, nimmt Nietzsche das Bewusstsein unter Beschuss. Oder viel eher die Überbewertung desselben und unsere Gewöhnung daran, das Sich-bewusst-Werden als Erkenntnisvorgang zu betrachten. Es ist einfach, eine Sache zu kritisieren, die mehr oder weniger abstrakt vor uns steht: unser Verhalten, unseren Charakter, ein Werk, eine Arbeit. Aber den Bewusstseinsvorgang selbst? Dann ist doch alles eine Täuschung? Zumindest alles, was uns zu Bewusstsein kommt. Nietzsche wagt die Kritik.
Seine Idee ist, dass das Bewusstsein ein noch schlecht entwickeltes Organ ist. Eines, das aus dem Mitteilungsbedürfnis des Menschen erwachsen ist. Im Grunde spiele sich Vieles außerhalb des Bewusstseins ab (Nietzsche hat das geschrieben, bevor die Idee des »Unbewußten« durch Freud zum Common Sense wurde).
»Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe: wie ja thatsächlich auch jetzt noch bei uns der bei weitem überwiegende Theil dieses Lebens sich ohne diese Spiegelung abspielt –, und zwar auch unsres denkenden, fühlenden, wollenden Lebens«.
Friedrich Nietzsche
Nietzsche fragt weiter, wozu sich das Bewusstsein überhaupt entwickelt hat? Es wäre doch genauso ein Leben ohne jene Spiegelung vorstellbar? Seine Antwort ist, dass es eine Art Hilfswerkzeug zur schnellen Verständigung war und noch ist. Und damit auch eng gekoppelt an die Sprache. Nicht bloß als gesprochenes oder geschriebenes Wort, sondern im umfassenden Sinn: als das Senden und Interpretieren von Zeichen. Und die schnelle Verständigung war im Grunde notwendig, um Bedürfnisse zu kommunizieren.
»[W]o das Bedürfniss, die Noth die Menschen lange gezwungen hat, sich mitzutheilen, sich gegenseitig rasch und fein zu verstehen, da ist endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung da, gleichsam ein Vermögen, das sich allmählich aufgehäuft hat und nun eines Erben wartet, der es verschwenderisch ausgiebt (– die sogenannten Künstler sind diese Erben, insgleichen die Redner, Prediger, Schriftsteller, Alles Menschen, welche immer am Ende einer langen Kette kommen, ›Spätgeborene‹ jedes Mal, im besten Verstande des Wortes, und, wie gesagt, ihrem Wesen nach Verschwender).«
Friedrich Nietzsche
Das ist doch mal ein Nadelstich! Was mir zu Bewusstsein kommt, ist mir so nah und fühlt sich wie das Persönlichste meines Persönlichen an. Ich sehe etwas und es kommt mir zu Bewusstsein. Ich fühle etwas, es kommt mir zu Bewusstsein. Ich denke etwas, der Gedanke kommt mir zu Bewusstsein. Eine starke Herausforderung, gerade diesen Vorgang lediglich als ein schlecht ausgebildetes Organ zur Verständigung zu betrachten! Zumal diese Betrachtung wiederum nur eine unpersönliche Bewusstwerdung wäre. Nietzsche folgert, dass das Bewusstsein
»von vornherein nur zwischen Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und Gehorchenden in Sonderheit) nöthig war, nützlich war, und auch nur im Verhältnis zum Grade dieser Nützlichkeit sich entwickelt hat. Bewusstsein ist eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch, – nur als solches hat es sich entwickeln müssen: der einsiedlerische und raubtierhafte Mensch hätte seiner nicht bedurft.«
Friedrich Nietzsche
Was für ein Blickwinkel! Unsere eigenste Wahrnehmung ist nur eine fortgesetzte innere Kommunikation. Gedanken, Gefühle, Handlungen sind – insofern sie uns zu Bewusstsein kommen – Ausdruck zwischenmenschlicher Beziehungen. Individualität ist eine Täuschung. Jedenfalls die, derer wir bewusst werden. Die Spiegelung des Lebens in uns ist eine gesellschaftliche Spiegelung. Die heutige Psychologie hat diese Erkenntnis zu einem Großteil verinnerlicht. Wenn man den Bewusstseinsvorgang als psychischen Raum bezeichnen würde, setzt sich dieser eben vor allem aus frühkindlichen Beziehungserfahrungen zusammen.
Nun findet Nietzsche keine wohlwollenden Worte für das Bewusstsein, wie er es beschreibt. Es sei mit »allem Bewusstwerden eine große gründliche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden« (Friedrich Nietzsche). Warum so drastische Worte? Warum die Abwertung des Bewusstseins aufgrund seines Ursprungs in der Mitteilungsbedürftigkeit? Ist es nicht eine bewundernswerte Fähigkeit des Menschen, zwischenmenschliche Beziehung verinnerlicht zu haben? Das Leben zuvorderst durch die Brille der Beziehungserfahrung zu erleben?
Was Nietzsche vor allem bezwecken möchte, ist eine Umwertung. Gerade der viel größere Teil, der uns nicht bewusst wird, ist sein Anliegen. Der Teil, der für die Sprache und das Bewusstsein unzugänglich ist. Nur den kann er nicht adressieren. Der kann nicht zu Bewusstsein gebracht werden. Aber es hilft vielleicht, zumindest das Bewusstsein in seine Schranken zu weisen. Den Bereich des Sagbaren abzustecken. Und dadurch weist er vorsichtig auch den Weg hinaus. Den muss aber jeder selbst finden.
Auch betrachtet Nietzsche das Bewusstsein als Krankheit, weil es – hier nur zaghaft angedeutet – seinen Ursprung in Befehl und Gehorsam hat. Und der setzt sich darin auch weiter fort. Gewalt und Ungleichheit sind nicht nur in die Sprache, sondern selbst im primären Vorgang des Bewusstwerdens eingeschrieben. Auch dieser Gedanke ist herausfordernd! Denn das würde bedeuten, dass Befehlen und Gehorchen keine zeitweiligen gesellschaftlich bedingten Zustände sind, sondern die Grundstruktur menschlicher Wahrnehmung ausmachen. Man müsste also sein Bewusstsein verlieren, um dieser Struktur zu entrinnen.
Geradezu schicksalhaft fügt sich Nietzsches eigene Lebensgeschichte an diesen Gedanken an. Nietzsche soll, so der Mythos, beobachtet haben, wie ein Pferd gepeitscht wurde. Woraufhin er in Tränen ausbrach, das Pferd umarmte und von nun an seine verbleibenden Tage in geistiger Umnachtung verbrachte. Die Umnachtung ist bezeugt, bei der Pferdeszene bleibt unklar, ob sie sich so zugetragen hat. Dennoch kommt sie wie eine Urszene des innerpsychischen Konflikts Nietzsches daher: die Domestikation des Pferdes als die unausweichliche Folge des durch Befehl und Gehorsam zusammengesetzten, bewussten Menschen. Als hätte Nietzsche sich entschieden, sich seines Bewusstseins zu entledigen, weil er dessen Struktur in Angesicht des gepeitschten Pferdes nur allzu bewusst wurde. Er flieht in die Schuldlosigkeit geistiger Umnachtung.
Vermutlich war Nietzsche einfach nur krank und die Pferdeszene eine eindrückliche Fiktion, um den bald aufkeimenden Nietzsche-Kult zu befeuern. Aber seine Kritik des Bewusstseins wiegt deswegen nicht minder schwer!
Hinter den vielleicht deprimierenden Worten vom unentrinnbaren Bewusstsein als Krankheit liegt eine große Befreiung verborgen. Denn gerade die umgreifende Erkenntnis der eigenen Beschränkung öffnet eine Tür.
Der gesamte Aphorismus zum Nachlesen auf zeno.org
Zitiert aus:
Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In: Kritische Studienausgabe. Bd. 3. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München 1999.
Bewusstsein als Krankheit
Der Philosoph Friedrich Nietzsche hatte die Fähigkeit, mit wenigen Worten die gewohnte Wahrnehmung in Frage zu stellen. Gleichzeitig wusste er, wie sehr […]