Die schwierigste Frage
Wow! Was für eine Frage! Was für ein Brett von einer Frage! Ich finde, es gibt keine Frage, die schwieriger zu beantworten ist. Die Philosophie hat sich schon mit den abgründigsten, verworrensten und düstersten Fragen auseinandergesetzt und findet immer wieder neue Antworten: Was ist der Sinn des Lebens? Was sind die Gründe, keinen Selbstmord zu begehen? Was ist Realität? Was ist Fortschritt? Was bedeutet es, eine Frage zu stellen? Was ist der Mensch? Und so weiter … Alles unheimlich tiefgründige Fragen. Solche, die man besser nicht beim Smalltalk an der Supermarktkasse oder beim Friseur stellt. Zumindest, wenn man nicht riskieren möchte, verdutzt angeschaut zu werden. Und doch ist für mich immer noch die tiefgründigste aller Fragen, die Frage, was wir meinen, wenn wir von »Liebe« sprechen?
Es gibt viele technische Präzisierungen, um ein bisschen Klarheit zur Beantwortung der Frage zu erhalten. Notwendige Justierungen, um so etwas wie einer Begriffsdefinition näher zu kommen. Dafür würde man die Facetten der Liebe je nach weltanschaulichem Gesamtkontext aufzeigen. In einer säkularen, wissenschaftlich geprägten Welt könnte man Liebe auf ihre biologischen und chemischen Prozesse herunterbrechen. Dazu vielleicht noch ein paar evolutionsbiologische Erklärungen mitanfügen. Daraufhin könnte man »Obacht!« ausrufen, »Das ist reduktionistisch, vergessen wir bitte die Qualia und die Kultur nicht!«. Liebe hat ja neben messbaren chemischen Prozessen auch eine fühlbare, erlebbare Dimension. Außerdem verläuft sie in kulturell angelegten Bahnen. Die chemischen Prozesse sind durch Kultur eingehegt. Dann kann man noch einen historisch und soziokulturell geschulten Blick hinzufügen: Liebe im Westen heute stellt sich ja ganz anders dar als vor tausend Jahren. Es wird eine ganz andere Kritik der Liebe möglich: In einer durchpsychologisierten Welt kann Liebe und ihre Ausprägungen plötzlich »toxisch« sein. Sie kann an Lernerfahrungen aus der Kindheit gekoppelt sein, die sie kritikwürdig erscheinen lässt. Der Offenheit des Herzens ist dann ein Gift beigemischt. Die chemischen Prozesse begleitet auch ein überspanntes Nervensystem.
Alle die oben angeführten technischen Präzisierungen scheinen aber wenig hilfreich in Bezug auf Liebe. Überhaupt scheint der Liebesbegriff einer zu sein, der sich dem technischen Zugriff am vehementesten entzieht. Jeder, der im Zustand des Verliebtseins solche Differenzierungen und Erklärungen angeboten bekommt, kann nur schmunzeln. Zurecht. Das führt mich eigentlich auch selbst wieder zu dem Punkt, wo ich vor der Frage kapitulieren will. Wo ich mir eingestehen möchte, dass es keinen Sinn macht, Liebe philosophisch greifen zu wollen. Die Liebe als der Schmetterling, der sie zu sein scheint, lieber davonfliegen zu lassen …
Liebe als Zentrum
Aber gleichzeitig denke ich, dass es die wichtigste philosophische (und vielleicht auch nicht nur philosophische) Frage überhaupt ist. Auch wenn unsere aufgeklärte Gegenwart nicht mehr viel für metaphysische Einsichten übrig zu haben scheint und Metaphern als unklare Äußerungen abtut, scheint mir Liebe ein Zentrum zu bilden und dafür zu sorgen, dass überhaupt etwas zusammenhält. Für mich selbst ist darin zumindest alles enthalten. Weshalb ich auch so eine Ehrfurcht vor der eingangs gestellten Frage habe. Eine Ehrfurcht, die ich sonst nirgendwo vergleichsweise hätte.
Eine Nebenwirkung des philosophischen Grübelns ist, dass man alles infrage stellen kann. Wirklich alles: auch das »Ich« oder das »denke«. Das kann schwindelerregend sein. Es gibt eine unhaltbare Kritik und einen alles zersetzenden Zweifel beim Hinterfragen der Dinge. Hier irgendwie einen Halt zu finden, ist lebensnotwendig. Dass ich meine teilweise wirklich eigenartig willkürlichen Gedankenvorgänge oder irgendeine abstrakte »Erste Person Singular«, auf die ich immer wieder rekurriere, als haltgebendes Zentrum auffinden würde, lag mir persönlich schon immer fern. Für mich war das Zentrum oder der Klebstoff meines psychischen Hauses ganz klar die Liebe. Und versuche ich die auszubuchstabieren, wird sie kritisierbar, anzweifelbar und angreifbar. Alleine schon über etwas zu schreiben, heißt ja auch, es hinter sich zu lassen.
Liebe ausbuchstabieren
Also, was ist Liebe für mich persönlich? Wenn ich von allen technischen Präzisierungsversuchen absehe, dann ist sie kurz: die einzige Gewissheit. Ich bin froh, sagen zu können, dass ich mal so eingenommen war von etwas, so erfüllt und durchdrungen war von etwas, dass darin alles weitere Große und Kleine gerechtfertigt ist; und das – nur weil es diesen Zustand restloser Erfüllung gab, nicht nur als Möglichkeit, sondern als Wirklichkeit – alles an seinem Platz ist. Ein Zustand frei von Besitzdenken, frei von Polarität, wo Sein und Tun in Eins fallen. Ein Zustand, in dem ich sagen konnte: »Alles, was war und alles was folgt: das war es wert und das wird es wert sein. Ab jetzt kann ich mich zurücklehnen. Es hat sich bereits alles erfüllt.« – Und schon höre ich die Kritikerstimme in mir lautwerden: »Ja, aber was du beschreibst, ist doch ganz klar eine regressive Phase, eine körperliche Erinnerung an dein allversorgtes Dasein im Mutterleib. Symbiose. Singularität. Mehr nicht.« Das klingt plausibel. Aber so eine konzeptuelle Kritik ist im Vergleich zur Gewissheit des Zustands auch nichtssagend. Mir fallen auch unendlich viele Argumente gegen Entwicklungsmodelle und die ihnen inhärenten Wertmaßstäbe ein. Aber – wie schon gesagt – ist die Gewissheit, die sich in der Liebe artikuliert, das stärkste Argument und deshalb tragend.
Warum muss denn Liebe, damit sie als reif angesehen wird, eingezäunt werden? Warum kann man kein Herz für alles Leben auf dieser Welt haben? Warum sollte Liebe in den eigenen vier Wänden Halt machen müssen? Könnte es nicht sein, dass die regressiv-symbiotische Liebe die eigentlich reife ist? Dass sie eine viel bessere Orientierung hin zu einer besseren Welt bietet?
Ich muss gestehen, dass die Liebe, wie ich sie oben beschreibe, immer an Ecken und Kanten gestoßen ist. Zum Beispiel ist sie bedingungslos. Es ist ja bereits alles erreicht. Was für Bedingungen soll ich hier stellen? Wenn du die Spülmaschine nicht ausräumst, liebe ich dich ein bisschen weniger? Wenn du ganz du selbst bist, liebe ich dich ein bisschen weniger? Wenn du jemand anderen liebst, liebe ich dich gar nicht mehr? Wenn du mich nicht liebst, dann liebe ich dich auch nicht? – Für mich waren das immer absurde Berechnungen, die vielleicht aus nachgeschalteten Gefühlen und Gedanken entspringen, aber sich nur dürftig, wie zweifelnde Kritikerstimmen, um das Zentrum einer Liebe heften, die natürlich keine Bedingungen kennt. Ich verstehe auch, aus welchen Perspektiven die Bedingungslosigkeit der Liebe kritisierbar ist. Und mich selbst auf die Couch legend, könnte ich mir Einiges vorhalten. Aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass das Ideal, an dem ich festhalte und das ich in ein gemeinschaftlich lebbares Leben überführen möchte, für mich richtig ist. Ich glaube auch, dass nur so eine herrschaftsfreie Welt möglich wäre. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Bis jetzt!
Bis jetzt jedenfalls! Jetzt möchte ich ausprobieren, wie es ist, eine »reife« Liebe auszuleben. Eine Liebe der Bedingungen, der Gefühle wie Eifersucht und Neid beigemischt sind. Ausprobieren, wie es ist, Zäune zu bauen! Liebe einzuhegen. Besitzansprüche zu stellen. Meine »einzige Gewissheit« fallen lassen. Bodenloses Terrain betreten. Warum? Keine Ahnung.