Wenn man an Wespen denkt und vielleicht auch an seine letzte Begegnung mit dem unheilvoll surrenden Kleintier, fallen einem wohlmöglich Begriffe wie »lästig« oder »gefährlich« ein. Unbedeutende winzige Tiere, die dennoch für viel Unruhe sorgen.
Und dann gibt es noch die verkopfte Mahnung daran, dass Wespen ein wichtiger Bestandteil für das Ökosystem sind. Oder dass ihnen, wie jedem lebendem Organismus, ein respektvoller Umgang gebührt. Aber das nützt einem nichts, wenn man die Signalfarbe Gelb in Kombination mit Schwarz plötzlich bedrohlich nah vor sich sieht. Wo man eben noch in Gedanken an vorgestern oder Gesprächen über irgendetwas ganz weit weg versunken war, fordert das Surren der Wespe zur Unmittelbarkeit auf. Ohne Umschweife! Der von einem Moment auf den anderen zur Möglichkeit gewordene Stich gleicht einem Ausrufezeichen: »Achtung, hier bin ich! Ich bin einfach gestrickt und suche keinen Stress. Aber ich bin auch die Herrscherin darüber, ob unser Verhältnis kippt!« Und wenn es kippt, dann in einem unvorhersehbarem Bruchteil einer Sekunde.
Der Stich ist zwar reale Konsequenz, aber auch das ausdrucksvolle Bild für eine unhintergehbare Aktualität. Jeder Stich hat etwas Sinn- und Grundloses. In Wahrheit ist er akausal und passiert ohne Vorwarnung. Die Wespe kann nicht mit uns sprechen und wir auch nicht mit ihr. Aber sie trägt diese eine Botschaft lautstark nach außen: dass sie die Hoheit im Kleinen besitzt, die Hoheit über den Impuls.
Während wir – nachdem unsere Hirnwindungen vermutlich noch tausend neuronale Umwege zurückgelegt haben – träge den Arm bewegen oder nicht bewegen, gab es für die Wespe gleichzeitig und gleichermaßen schon tausend Möglichkeiten zuzustechen. Das ist die Wirklichkeit, in der die Wespe lebt. Und das ist die Kluft zwischen uns und ihr. Aber es gibt einen Raum der Begegnung. Und hier wird es spannend!
Durch ihre Hoheit über den Impuls setzt die Wespe auch die Impulsivität ihres Gegenübers auf die Probe. Wie gehe ich damit um, wenn ich von jetzt auf gleich mit der Sprache der Präsenz konfrontiert werde? Cool bleiben und nicht beunruhigen lassen ist wohl am effektivsten und bewundernswert zivilisiert. Aber es heißt auch, die Botschaft der Wespe zu ignorieren: »Hier bin ich, die Hoheit über den Impuls« – »Na und? Ich als Mensch bin Herrscher auf dem Gebiet der Vernunft und Impulskontrolle!« Effektiv. Beide Spezies gehen getrennte Wege. Aber auch den einer misslungenen Kommunikation.
Ich denke in der Begegnung mit der surrenden kleinen Bedrohung ist mehr Potenzial, als die oben beschriebene Ausweichbewegung. Das Potenzial, überhaupt schonmal eine Begegnung geschehen zu lassen. Der lästigen Unterbrechung sowieso unwichtiger allzu menschlicher Tätigkeit mehr abzuschöpfen, als einen schmerzvermeidenden Triumph über die eigenen Impulse. Den Raum, den die Wespe eröffnet, einmal wirklich zu betreten. Anzuerkennen, dass in diesem Raum Naturkräfte walten, die nicht kontrollierbar sind. Demütig dem irrationalen Kipppunkt, den ein Stich bedeuten würde, gegenüberzutreten. Zu sehen, dass der Mikrokosmos der Wespe aus der Perspektive des Impulses ein Makrokosmos ist und dass die träge Vernunft des großen stolzen Zweibeiners dort zum Mikrokosmos schrumpft. Nicht cool bleiben. Auch nicht voller Panik um sich schlagen. Impuls und Vernunft miteinander versöhnen. Diese kleine Welt, die sich mir darbietet, die sich mit einem Ausrufezeichen Gehör verschaffen will, ein bisschen wahrzunehmen, statt sie zu bekämpfen oder zu ignorieren.
Das Ausrufezeichen der Wespe ist ein Segen und Weckruf: Es gibt eine Welt außerhalb der geschäftsmäßigen Menschenwelt. Der Menschenwelt, in der auf eine rationale Handlung die nächste folgt, bald eine vernünftige Kette von aufeinander aufbauenden kontrollierten Ereignissen sich auftürmt, während schon längst unbemerkt der Kerker eines unfreien Menschen gebaut ist, der sich dann stolz seiner Fähigkeit zur Vernunft versichert und der schon im nächsten Moment – auch unbemerkt – zu seinem Smartphone greift. Denn hier droht ja kein Stich …