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Politische Empfindsamkeit

Das Begriffspaar »Verständnis und Veränderung« schließt einen interessanten Assoziationsraum auf. Wie in der Dialektik von Sein und Tun, gilt es hier zwei gegenläufige und doch ineinander verschränkte Pole miteinander auszusöhnen.

Es scheint ganz klar: Wir können nicht immer stehenbleiben und verstehen wollen, anhören und verweilen, ohne weiterzugehen. Und doch ist Stehenbleiben wichtig. Anhören ist wichtig. Nirgends macht sich das wohl mehr offenbar als in der gegenwärtigen politischen Stimmungslage. So geht es oft nicht um Inhalte, sondern darum, in seinen Gefühlen, Problemlagen und Bedürfnissen gesehen und angehört zu werden. Und darüber hinaus auch verstanden zu werden. Lösungsvorschläge von kurzer Hand gehen fehl, wenn die wirkliche Notlage in ihrer gesamten biographischen Dimension übersehen wird.

Die Biographie ist nicht, wie es zunächst scheint, etwas Ureigenes, Persönliches. Sie erklärt die eigene Position im Gesellschaftsganzen. Alleine schon dadurch, dass sie in einer verstehbaren Sprache formuliert ist. Vielleicht hat jemand ein Selbstwertproblem, weil seine sozioökonomische Stellung und die seiner Vorfahren eine zumeist subtile und verschleierte Abwertung begünstigte. Nicht jeder kennt und empfindet einen angekratzten Selbstwert auf die gleiche Weise. Über Generationen hinweg bestimmt die Gesellschaftsposition und die damit zusammenhängenden materiellen Verhältnisse auch die Art und Weise, wie wir fühlen. Wer in eine Welt geboren ist, in der die grundlegende Aufwertung qua seiner Geburt schon gewährleistet ist, mit einem Körper, der die Spuren dieser Aufwertung als transgenerationales Erbe in sich trägt, der wird zeitweilige Selbstwertprobleme wohl anders empfinden als jemand, der ein davon abweichendes Geburtenlos gezogen hat.

Unvernunft

Ja, es ist zum Haare raufen, wie hartnäckig manche Menschen an ihrer unvernünftigen Einstellung festhalten. Aber es ist auch verständlich. Die Körper der meisten dieser Menschen reagieren in Anbetracht deren Biographie nicht nur sinnvoll, sondern auch klug. Es nützt nichts, diesen Körpern mit Vernunftreden entgegenzutreten, wo doch die Vernunftrede selbst einen Körper zur Voraussetzung hat. Und zwar meistens einen Körper, der den Luxus der Zeit und Geborgenheit hatte, die Werkzeuge der Vernunftrede zu verinnerlichen.

Der empathischste Reflex, der hier zutage treten kann, ist wohl der, einmal wirklich zuzuhören. Selbst einmal die Kopf- und Vernunftebene zu verlassen, um zu spüren, woher jemand kommt. Dem Ohnmächtigen nicht zu sagen, er habe doch mehr Handlungsmacht als er glaubt. Denn die Ohnmacht, die er spürt, hat eine ganz eigene materielle Historie und läuft in Bahnen, die sich über Jahrzehnte, vielleicht sogar über Jahrhunderte, vertieft haben. Bahnen, die nur bedingt umzulegen sind. Bahnen, die auch – in der archaischsten Tiefe – den Hinweis geben mögen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Dass die Vernunftrede in Anbetracht der Historie wohlmöglich sogar ein Werkzeug des Ausschlusses gewesen sein mag, zwar im Wahrheitsraum abstrakter Logik überzeugend, aber in der Wirklichkeit die entkörperlichte Machtbefugnis ausgewählter Eliten.

»Bürgerliche Männer wurden zu politischen Subjekten, versehen mit einem symbolischen Überschuss, der sie zu seltsam entkörperten, souveränen Subjekten kürte. Hingegen unterstellte man all jenen, die man aus der Politik ausschloss, einen Überschuss an Leiblichkeit und Natur: den prekären, perversen, feminisierten, rassifizierten Körpern. Kurzum, der Mehrheit der Menschheit.«

Jule Govrin: Universalismus von Unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit. Frankfurt a. M. 2025. S. 63.

Es gibt keine Unvernunft. Es gibt auch keine Intelligenz. Ja, vielleicht im Wahrheitsraum abstrakter Logik. In der Wirklichkeit dagegen gibt es differenzierte Meinungen, kluge Auseinandersetzungen, interessante Gedankengänge, die allesamt auch ein Ausdruck zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Situation agierender Körper sind.

Widerwille

Wie kann Verständnis zustande kommen, wenn die Gefühle von Menschen unvergleichbar sind? Wenn selbst die Konzepte und Theorien zum Verstehen in dualistischer Logik Unterscheidungen treffen, die für den einen Menschen akkurat sein mögen, für den anderen nicht ansatzweise? Wie gewinnbringend ist es, von individuellen Abhängigkeits- und Unabhängigkeitsgefühlen zu sprechen, solange die Abhängigkeitsverhältnisse in einem derartigen gesellschaftlichen Ungleichgewicht sind? Solange die Spiel- und Handlungsräume nicht für alle gleichermaßen zugänglich sind? Ist diese materielle Voraussetzung nicht gegeben, sind Gefühle kaum miteinander vergleichbar. Dann ist alleine schon die Anwendung gleicher Gefühlsbegriffe ein Verkennen der Wirklichkeit lebendiger Körper in materiellen Kontexten.

Es mag wohl auch daher kommen, dass jemand aus sozial schwachen Verhältnissen auf die konkreten Versuche der Handreichung mit Widerwillen reagiert. »Dem kann man es ja auch gar nicht Recht machen«. – Wir haben alle einen feinen Kompass in uns, der wirkliche Augenhöhe erspürt. Und die hängt von unendlich vielen Faktoren ab. Vor allem aber wird die Situation der Handreichung nicht bloß ein Abhängigkeitsgefühl aktualisieren, sondern auch die Tatsache reinszenieren, dass jemand genau dort, wo er jetzt steht, nicht gleichwertig ist. Er muss, so vermittelt die Situation, erst gleichwertig gemacht werden. Es geht hier um einen äußerst sensiblen Unterschied zwischen Sein und Tun, zwischen Verständnis und Veränderung.

Dialektisch-Behavioral

Es ist also nicht viel damit gewonnen, eine Veränderung einzuleiten, wo das Verständnis noch nicht gesät wurde. Der Weg mag noch so deutlich vor Augen liegen, die Vernunft mag alle Antworten bereits bereitstellen und doch sprechen die Affekte die empfindliche Sprache der Präsenz. Eine uralte und unbeugsame Sprache. Eine Sprache, die in den von der fürsorglich gemeinten Vernunft aufgezeigten Wegen die subtile ganz andere Botschaft entschlüsselt: So wie du jetzt bist, bist du nicht okay.

Es gibt eine amerikanische Psychologin, Marsha M. Linehan, die eine Therapiemethode für eine »Persönlichkeitsstörung« entwickelt hat, von der sie selbst betroffen ist. Als Hauptursache der Störung macht Linehan – neben einer angeboren ausgeprägten Empfindlichkeit – die Invalidierung aus. Damit ist solches Verhalten gemeint, dass das emotionale Empfinden und Verhalten von Menschen entwertet oder für ungültig erklärt. Linehan selbst war einem solchen invalidierenden Umfeld ausgesetzt und entwickelte, wie für die Störung charakteristisch, unaushaltbare innere Spannungszustände. Nach jahrelangem Klinikaufenthalt und einer bewegten Biographie, promovierte sie in Psychologie und entwickelte die DBT (Dialektisch-Behaviorale Therapie). Eine heute gängige Methode zur Behandlung von Borderline.

Das spannende und auch für politische Empfindungen aufschlussreiche dieser Methode ist ihre vorsichtige Aufarbeitung jahrelanger Invalidierungserfahrung. Es geht, in aller Kürze, darum, die Waage zwischen Verständnis und Veränderung zu halten. Linehan war in ihren Klinikaufenthalten Ärzten und Ärztinnen anvertraut worden, die es gewohnt waren, Veränderung als Heilung zu verstehen, ohne dabei im Blick zu haben, dass die Sprache der immer überhörten und übergangenen, zu Spannungszuständen gewucherten, Affekte diese eine andere, verletzendste aller zwischenmenschlichen Botschaften entschlüsselte: So wie du jetzt bist, bist du nicht okay. Deshalb sieht die DBT vor, sowohl das Verständnis als auch die Veränderung als Heilung zu begreifen.

Doppelt kontraintuitiv

Um die hochkochenden Affekte zu besänftigen, die politische Empfindungslage zu beruhigen, wird es tragischerweise wohl nichts nützen, auf vernünftige Lösungen hinzuweisen. Nicht einmal die liebevoll gemeinte Handreichung wird etwas nützen. Solange der Befriedungsversuch nicht bei der Wurzel der invalidierenden Entwertung ansetzt, werden die irrationalen und überbordenden Affekte unweigerlich Wege der sozialen oder materiellen Umwertung suchen und naturgemäß finden.

Politisch agierende Subjekte sind nicht vergleichbar mit Borderline-Patienten. Aber die grundlegende Dynamik von Invalidierung und Spannungszuständen scheint universell. Und die Borderline-Affektstärke kann durchaus ein Brennglas für einen politisch fingierten »Normalkörper« sein.

Es ist unendlich schwer, zu akzeptieren und anzunehmen, was krankhaft und unvernünftig scheint. Es ist doppelt kontraintuitiv: einmal, weil die eigene helfende Hand, alle rationalen Argumente auf ihrer Seite wissend, doch als unzweifelhaft gut empfunden wird; ein anderes Mal, weil das Krankhafte zu akzeptieren, in der Tiefe archaischen Affektlebens auch bedeuten würde, den Tod zu akzeptieren (das invalidierende Pochen auf Vernunft verdeckt möglicherweise den eigenen Ekelaffekt und die eigene Krankheitsangst.)

Spagat

Mein Vorschlag, um das grotesker werdende Bühnenspiel politischer Affektentladung zu entschärfen, wäre also, die subtilen Mechanismen der Politischen Invalidierung auszumachen: also Politische Invalidierung durch das Entgegenhalten einer scheinbar entkörperlichten Vernunft, durch die Konzeptualisierung und Gleichmachung von Gefühlen bei gleichzeitiger Leugnung der materiellen Verhältnisse oder durch die Aberkennung einer biographisch-materiellen Gesamtsituation eines Menschen. – Politische Validierung dagegen würde bedeuten, jemandes Gefühlsleben im Kontext seiner Gesamtsituation anzuerkennen. Letztlich den Körper anzuerkennen, in seinem Potenzial ebenso wie in seinem Verfall, in seiner Gesund- und Klugheit ebenso wie in seiner Destruktivität und Irrationalität. Hier dann den Spagat zwischen Verständnis und Veränderung hinzubekommen, ist wohl eine hohe Kunst.


Zum Weiterlesen und -hören:

Ungleiche Demokratie: Warum vielen Menschen nicht zugehört wird (Deutschlandfunk)

Marsha M. Linehan: Building a Life Worth Living. A Memoir

Wie ernst sollte man Politik nehmen? Mit Felix Lobrecht (Politik mit Anne Will)

Marsha Linehan: How She Learned Radical Acceptance (YouTube)