water spiral

Um-

Umkreisen

»Um-« ist eines meiner liebsten Präfixe. Also Vorsilben: ein unscheinbarer Laut, eine kaum wahrnehmbare Mundbewegung, die den Sinngehalt eines Wortes erweitert oder präzisiert. »Um-« ist eine Umarmung, ein Umschließen dessen, was es präzisiert. Ich kann jemanden umsorgen, dann erhält meine Fürsorge etwas haltgebendes, rahmendes. Ich kann etwas umkreisen. Dann bewege ich mich auf ein Ziel zu. Kein klar umrissenes, sondern ein unsagbares Ziel. Vielleicht eines, das sich erst im Umkreisen bildet, Gestalt annimmt. Dieses Ziel wird es nie geben. Nur in Gedanken lässt sich so etwas wie ein Ziel ausformulieren. Umformulieren ist dagegen die ständige Aktivität des gelebten Lebens.

»Um-« ist eine Kur gegen die Verabsolutierung. Umkreisend schlägt die Bewegung in alle Richtungen aus. Das »Um-« gibt dafür die Erlaubnis. Es umschließt das Chaos. Nicht unsicher oder unentschlossen ist dann die Bewegung. Das Zickzack und hin und her ist ruhevoll umspannt. Das Blatt, das vom Wind umhergeschleudert wird, wird auch vom Wind getragen.

Wer lange schon einer Meinung war, könnte mal probieren, wie es ist, die genau gegenteilige Meinung zu vertreten. Wer lange schon verheiratet ist, könnte ausprobieren, wie es ist, alleine zu sein. Wer immer schon alleine sein wollte, könnte ein paar Kinder zur Welt bringen. Wer immer schon gemäßigt war, könnte ausprobieren, wie es ist, extrem zu sein. Wer vernünftig war, könnte ein bisschen verrückt werden. Wer das Unstete als Gefahr betrachtet hat, könnte unstet werden. Wer sich hat treiben lassen, könnte mal die Kontrolle übernehmen. Wer süchtig war, könnte abstinent werden. Wer bescheiden war, könnte größenwahnsinnig werden. Oder andersrum. Oder andersrum …

Sieben Leben

Wir meinen nur allzu schnell, wir müssten uns festlegen. Weil wir endlich sind. Bei dem Gedanken daran, geht es auch gleich los mit der Schnappatmung. Dann fehlt die Zeit für das ausgiebige Ausatmen, das vom »Um-« gefordert wird. Lieber den eingeschlagenen Weg einhalten. Keine Zeit, umzuschwenken. Nur die Katze hat sieben Leben. Also schnell entscheiden, bevor es zu spät ist! Als Kinder hatten wir doch genug Zeit, uns spielerisch auszuprobieren. Später ist es wichtig, sich auf einen ausgesuchten Weg zu begeben. Man kann nicht alles haben. Nur das Eine kann man haben und daran soll man festhalten. Scheitert die Umsetzung, ist das Ziel verfehlt. Denn das Ende rückt ja immer näher. Umentscheiden oder umkehren ist riskant.

Es ist nicht einfach, zu erkennen, wann der Zeitpunkt zum Aufspringen gekommen ist. Oder zum Abspringen. Welcher Aufgabe soll ich mich verschreiben? Wann ist die Aufgabe vollendet? Das hat auch etwas mit Binden und Entbinden zu tun. Mit Verbindung und Isolation. Letztlich auch mit Leben und Sterben. Das passiert überall und ständig. Im Großen wie im Kleinen. Wie im wissenschaftlichen Prozess gibt es keine Wahrheit, sondern nur Falsifikation. Der eingeschlagene Weg ist immer nur ein Teil des Ganzen. Er ist immer falsch. Und doch muss er gegangen werden. Wie die Schwerkraft die Regentropfen das Fenster hinunterzieht, zeichnet die fortschreitende Zeit Lebenswege. Das passiert sowieso.

Tanzen, Tattoos, Beziehungen

Der Weg ist ein Tanz um eine Mitte. Das »Um-« erinnert daran. Es gibt ein Zentrum, dem man sich annähern kann. Diese Annäherung bestimmt den Rhythmus. Das Zentrum bietet Orientierung. Es ist aber nicht erreichbar. Sonst wäre der Tanz vorbei.

Ich habe schon öfter die Begründung gehört, sich für ein Tattoo zu entscheiden, sei deshalb schwierig, weil es bis zum Lebensende auf der Haut bleibt. Das ist so endgültig und final. Aber was ist denn daran weniger endgültig oder final, sich kein Tattoo stechen zu lassen? Im Endeffekt ist es egal und jemand stirbt als ein Mensch, der ein peinliches Arschgeweih hatte oder eine peinliche Haut. In jedem Moment muss eine Entscheidung getroffen werden, die nicht wiederholbar ist.

Oder was ist mit Beziehungen und dem Aufeinandertreffen von Menschen? Sich begrüßen und sich verabschieden? Sich in die Augen schauen oder aneinander vorbeischauen? Auch hier gibt es ein Maß, für das es eine Annäherung gibt. Die Perfektion der Symbiose ist nicht lebbar. Die vollkommene Autonomie auch nicht.

Für all’ das – Tanzen, Tattoos stechen lassen, Zwischenmenschliches – gibt es soziale Normen, Trends und Werte, an die man sich richten kann. Als Mann führe ich, lasse mir kein Tattoo von Blumen stechen und für Beziehungen kann ich auf unendlich viele Richtlinien zurückgreifen. Aber wer einfach Richtlinien umsetzt, hat die umkreisende Bewegung des Lebens bereits beendet. Das wäre wirklich endgültig.

Es spricht doch nichts dagegen, einen gemeinsamen Rhythmus erst zu suchen? Einen Tanz zu tanzen, der entsteht und nicht vorwegnimmt. Auch noch im verwegensten Chaos gibt es eine Struktur, wenn die Bewegung umkreisend ist.

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Ein Beitrag geteilt von MoRAL (@nouses_motomi)