Suhrkamp Taschenbuch Loick Die Ueberlegenheit der Unterlegenen Cover

Die Überlegenheit der Unterlegenen

Die Beherrschten, die Unterdrückten, Benachteiligten und Unterlegenen führen das eigentlich bessere Leben! Sie sind in Wahrheit also überlegen. Eine starke Behauptung! Daniel Loick, Professor für politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Uni Amsterdam, ist mutig genug, die Behauptung als Titel seines kürzlich erschienenen Buchs beim Suhrkamp-Verlag auszuwählen. Das in grellem Violett leuchtende »Die Überlegenheit der Unterlegenen« provoziert geradezu eine genauere Prüfung: Kann das denn sein? Werden »die Unterlegenen« nicht so bezeichnet, weil sie eben genau das sind: unterlegen?

Als würde der Trainer einer Fußballmannschaft seinem soeben grandios gescheiterten Team eine aufbauende Rede halten, dass deren Sportsgeist, deren Teamfähigkeit, deren Biss der eigentliche Sieg sei. Solche Reden können aufmunternd sein. Aber die Gewinnermannschaft darf in die nächste Runde, steigt auf oder bekommt den Pokal. Das Trostpflaster einer solchen Rede bleibt eben nur ein Trostpflaster im Vergleich zu den realen Bevorteilungen, die das Gewinnerteam genießt.

Und doch ist Loicks Verteidigung der Behauptung eine präzise Analyse bestehender Verhältnisse. Sie ist keineswegs nur das Austeilen einer Teilnehmerurkunde für Unterdrückte jeder Art. Sie ist eine sehr konkrete Darlegung davon, warum die Erfahrung des Verliererteams ein Wissen für eine wirklich bessere Welt bereitstellen könnte. Eine Welt, in der es nämlich weder Gewinner noch Verlierer gibt.

Politik für Maulwürfe

Die Symbolfigur für die um eine bessere Welt Bemühten ist der Maulwurf. Er will nicht einfach zur Sonne und selbst zum Gewinner werden, während er die Verlierer unter sich weiß. Sein Reich ist der Untergrund. Bislang, so Loick, sei es

»nicht gelungen, einen Maulwurf zu züchten. In der Gefangenschaft sind Maulwürfe nicht fortpflanzungsfähig; ›Ihre Anpassungsfähigkeit an den Terror menschlicher Naturbeherrschung ist minimal.‹ […] Ebendarum ist er der Held dieses Buches.«

Daniel Loick: Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften. S. 45.

Hier zeigt sich auch schon die besondere Argumentation des Buches. Ziel dürfe es nicht sein, die Unterdrückten in das bereits bestehende System aufzunehmen. Also den Maulwurf an die Oberfläche zu zerren und seine widerspenstige Natur zu zähmen. Der Maulwurf habe vielmehr aufgrund seiner Zähigkeit eine Lebensform entwickelt, die der der Menschen überlegen sei.

Der Maulwurf ist nur ein Symbol. Aber bezogen auf die Gesellschaft bedeutet das, dass die Unterdrückten bereits den besseren Lebensentwurf entwickelt haben. Und der Rest kann sich eben davon mal eine Scheibe abschneiden! Also alle runter zu den Maulwürfen!

Alle runter zu den Maulwürfen!

Mit Widerwillen ist man bereit, solche plakativen Bilder ernst zu nehmen. Zu sehr mag da der anarchische Zerstörungswille eines gekränkten Verlierers mitschwingen, die missgünstige Parole des Benachteiligten. Wenn schon keine Fairness herzustellen ist, dann soll doch die ganze Welt brennen! Aus einer privilegierten Position heraus mag schon die Kritik wie eine daher gejammerte Ausrede klingen: »Ich hatte heute nicht die richtigen Fußballschuhe an«, »der Ball war nicht richtig aufgepumpt«, »die Sonne hat geblendet«, und so weiter. Aber in der kritischen Theorie geschult weiß Loick in unzweideutigem Vokabular genauestens anzugeben, wo die Ausgangsbedingungen wirkliche Benachteiligung produzieren oder mindestens begünstigen.

Das Verhältnis von Unterdrückten und Unterdrückenden ist nicht nur real, sondern schon in die Bewusstseinsstruktur des Menschen eingeschrieben. Das Spiel, um bei der Metapher zu bleiben, hat sich längst schon verselbstständigt und über Jahrhunderte hinweg Ausgangsbedingungen hervorgebracht, die weit entfernt sind von unbequemen Schuhen, schlecht aufgepumpten Bällen oder einer blendenden Sonne. Viel eher startet das eine Team gleich mit einem Vorsprung von zehn Punkten, während die andere Mannschaft nicht einmal einen Torwart stellen darf. Das Verrückte sei nur, dass kaum noch jemand die Ungerechtigkeit bemerke. Das Verhältnis von »Herr« und »Knecht«, so Loick mit Rückgriff auf den deutschen Philosophen Hegel, habe sich bereits in die Bewusstseinsstruktur eingeschrieben. Und ist eben deshalb auch kaum noch als solches zu erkennen.

Schon bei Hegel gebe es eine Argumentation dafür, dass der »Knecht« eigentlich im Vorteil sei: Er mache die Erfahrung der Selbstständigkeit, weil er mit den eigenen Händen für den Herren arbeiten müsse. Außerdem sehe er sein eigenes Tun in der Welt gespiegelt und könne Sinn erfahren, weil er für andere tätig sei. Die reale Benachteiligung und das Leid, die eigene Arbeit unter eine Herrschaft stellen zu müssen, würden durch die Geschichte relativiert. Entweder als Erlösungsphantasie: »Die Gewinner von heute sind die Verlierer von morgen«. Oder retrospektiv: »Die Geschichte wird zeigen, wer auf der richtigen Seite stand«. Diese nach Teilnehmerurkunde und beschwichtigender Rede des Trainers klingende Argumentation findet auch Loick glücklicherweise nicht ausreichend. Sein Vorhaben ist deshalb, das Leben des »Knechts« immanent, also im Hier und Jetzt, als das bessere Leben zu begründen. Und zwar ganz konkret und fassbar.

Klüger, sozialer, schöner, gefühlvoller

In vier Bereichen seien Unterdrückte im Vorteil: Sie produzieren besseres Wissen, gestalten ein sozialeres Miteinander, verfügen über eine überlege Ästhetik und fühlen besser.

Jedem dieser Bereiche widmet Loick ein eigenes Kapitel und begründet seine Behauptung gleich mit konkreten Beispielen. So habe die #MeToo-Bewegung, nur um eines zu nennen, die Wissenslücke vieler privilegierter Männer in Bezug auf sexualisierte Gewalt angezeigt. Für die meisten Frauen sei das allerdings nichts Neues gewesen. Sie verfügten bereits über das Wissen. Die Perspektive der Herrschenden sei durchzogen von solchen Wissenslücken und blinden Flecken. Um beim Fußballvergleich zu bleiben, wird das Gewinnerteam viel eher dazu neigen, die Spielbedingungen zu naturalisieren, das heißt als unumgängliche Voraussetzungen zu betrachten. Der Fachbegriff dafür ist »Legitimationsdiskurs«. Die Verlierer sehen vielleicht viel eher, dass es auch richtiger sein könnte, wenn beide Mannschaften einen Torwart stellen dürften.

Ein weiteres starkes Beispiel, das Loick anführt, um die besseren Normen der Unterdrückten zu belegen, ist die Care-Arbeit. So wurde fürsorgliche Arbeit, Hilfe für Erkrankte, Haushaltsarbeit, die Sorge um Kinder, als den Frauen natürlich gegeben zugeschrieben. Und deshalb nicht entlohnt. Wie absurd ist das denn, wenn man einmal an den Spielfeldrand tritt und das Geschehen von außen beobachtet? Warum sollte das Produzieren von irgendeinem, wohl oft auch komplett bedeutungslosen, Kram entlohnt werden, dafür aber die zwischenmenschliche Fürsorge nicht oder so viel schlechter? Dieses Spiel ist mindestens so beschissen wie das Fußballspiel, bei dem die eine Mannschaft ohne Torwart antritt. In Wahrheit macht so ein Spiel doch niemandem Spaß.

Auch die Ästhetik von Unterlegenen sei eigentlich überlegen. Mit Rückgriff auf Schiller konstatiert Loick, dass eine bessere Ästhetik diejenige sei, die den Spagat zwischen Sinnlichkeit und Gestalt, also zwischen spontanem Ausdruck und gezielter Formgebung, hinbekommen würden. Das, was Schiller »Spiel« nennt. In der Improvisation und der ungeplanten Performance sieht Loick das Zusammenkommen von Sinnlichkeit und Form am ehesten.

»Dieses Zusammenkommen drückt aber keine Harmonie, Balance oder Insichgeschlossensein aus, sondern eine Diskordanz, Virtualität und ein Übersichhinaustreiben. Schön ist eine Lebensform nicht dann, wenn sie Leben und Form vermittelt oder aneignet, sondern wenn Leben und Form zur Performanz und Expression ihrer eigenen Überschreitung werden. Einen Vorteil dabei, eine solche Überschreitung auszuführen, haben diejenigen Gruppen, deren Leben ohnehin gezwungenermaßen ein Leben des Kampfs und der Improvisation ist.«

Daniel Loick: Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften. S. 184.

In dem Punkt fällt der Vergleich mit dem Fußballspiel schwer. Aber vielleicht ist die Verlierermannschaft, die erkennt, dass das Spiel an sich schon beschissen ist, kreativer darin, beim vorgezeichneten Verlieren wenigstens ein paar schöne Tore zu schießen. Die Schüsse der Gewinner auf das leere Tor sind zumindest wohl alle nicht besonders schön anzusehen.

Und auch die Gefühle, die sich im Kampf der Underdogs ausdrücken, seien besser. Herrscher und Beherrschte kennen beide den Kampf. Aber die Beherrschten kennen viel eher die existenzielle Furcht der Todesnähe. Die Gefühle des Miteinanders, der außergewöhnlichen Fürsorge und Verbundenheit, die sich beispielsweise in Krisensituationen immer wieder zeigen, bezeugen die Überlegenheit von Gefühlen, die sich aus einer Position der Furcht und Todesnähe heraus entwickeln. Der Sinn für die Besonderheit der eigenen Existenz ist geschärft. Ein Sinn, der bei den bereits vorprogrammierten Siegern, verkümmert sein muss, wenn überhaupt noch vorhanden.

Sind die Maulwürfe also überlegen?

Daniel Loicks Entwurf einer »Überlegenheit der Unterlegenen« ist unglaublich bereichernd. Er weist damit in eine Richtung, die auch ich intuitiv schon oft verspürt habe, aber nie richtig benennen konnte. Was nützt es, in einem Spiel als Gewinner hervorzugehen, das von Grund auf unfaire Ausgangsbedingungen stellt? Macht ein Leben Spaß, in dem ich es schaffe, ins Gewinnerteam gelost zu werden, bei dem ich aber durchweg aufs leere Tor schieße? Ich persönlich hätte die Frage immer klar mit »Nein« beantwortet. Kein Pokal oder Prestige würden das ändern und schon gar nicht, wenn sie als falscher Pokal und falsches Prestige erkennbar werden würden. Ich weiß, dass ich den Fußballspiel-Vergleich längst schon überreizt habe. Aber ich stehe hier vor demselben Vermittlungsproblem wie Loick mit seinem Buch. Als Gewinnermannschaft gesteht man sich eben ungern ein, dass das Spiel beschissen war, der Pokal keinen echten Wert hat und das Prestige fake ist. Der »Legitimationsdiskurs«, die Illusion vom haushohen, hart erkämpften und wohlverdienten Sieg, ist viel angenehmer.

Von hier aus betrachtet sind auch meine anfänglichen Bedenken zerstreut, dass Loicks Argumentation der beschwichtigenden Rede des Trainers gleichen könnte. Dass sein Buch ein erneuter Versuch sein könnte, unterdrückte Lebensformen zu romantisieren: »Die Armen kennen die Intensität der Gefühle, die mit dem täglichen Struggle einhergeht«; oder »die Care-Arbeitenden sind zwar komplett unterbezahlt, dürfen dafür aber Sinn in der Fürsorge erfahren«. Überall verdeutlicht Loick, dass das Leben der Unterlegenen ein ständiger Kampf ist und bleibt. Ein Kampf aber, den es sich nicht lohnen würde zugunsten eines Aufstiegs abzulegen. Weil der Kampf dafür wenigstens klüger, sozialer, schöner und gefühlvoller ist. Und der Aufstieg nichts am grundsätzlichen Herrschaftsverhältnis ändern würde. Die Maulwürfe, so schließt Loick sein bewegendes Buch,

»werden niemals aufhören, das zu machen, was sie am besten können. Sie können ihre Gänge ausdehnen und ihre Territorien erweitern. Sie können sich fortpflanzen und vermehren. Sie können Befestigungen anlegen und Verbindungen eingehen. Sie können Zäune ignorieren und Maschinen sabotieren. Wenn der Boden dann, so ausgehöhlt, ›zu beben beginnt‹, werden diejenigen einen Vorteil haben, die es gelernt haben, zu graben.«

Daniel Loick: Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften. S. 288.

Und doch kann ich mich nicht davor erwehren, die – wenn auch präzise und wissenschaftlich fundierte – Darlegung des Problems als Teil des selbst angesprochenen »Legitimationsdiskurses« zu betrachten. Als Spielzug eines – ich musste den bekloppten Vergleich ja einführen, jetzt bringe ich es auch so zu Ende – komplett beschissenen Fußballspiels mit bescheuerten Regeln. Aber die Maulwurf-Metapher ist wie ein wissendes Zuzwinkern beim Tätigen dieses Zugs.