Neuanfang, Dämmerung
© Kai Hornburg

Über Laufen und Neuanfänge

Letztes Jahr habe ich damit begonnen, regelmäßig laufen zu gehen. Die Bewegung vertreibt die lästigen, kreisenden Gedanken, mindestens für die Zeit, die der Körper mit Überleben beschäftigt ist. Wenn die erste Erschöpfung dann erst einmal abgeklungen ist und nur noch das wohlige Brennen der Lunge bleibt, fühle ich mich oft besser, fokussierter, klarer. Kurz gesagt: das Laufen tut mir gut. Es diszipliniert mich, lüftet den Kopf durch und bringt Struktur in strukturlose Tage. Dennoch habe ich vor zwei Monaten wieder damit aufgehört. Dabei handelte es sich um keine bewusste Entscheidung, es war eher ein schleichender Prozess. Ein kleines Zwicken am Knie, ein anstrengender Arbeitstag oder einfach keine Lust. Schon weitet sich die einwöchige Pause zu einer zweiwöchigen aus und so weiter und so fort. Man kennt das. Man findet Gründe. In der Selbstverarschung sind wir schließlich alle Spitzensportler.

Einfach wieder loslaufen

Heute bin ich einfach wieder losgelaufen. Und das ist auch der Grund für diesen Text. Denn so oft man auch scheitert – so kam mir der Gedanke, während ich einen Fuß rhythmisch vor den anderen setzte – so oft kann man auch wieder von Neuem beginnen. Ist das nicht eine wunderbare Erkenntnis – eine, die auf den ersten Blick fast banal anmutet? Doch sie ist nicht banal. Nicht, wenn es wirklich ums Leben geht, um die gelebte Praxis, den Alltag. Hier vergessen wir nur allzu oft um die Chancen des Neuanfangs.

Man sagt, der erste Schritt sei oft der schwerste. Und sicher ist es schwer, aus dem Nichts eine neue Gewohnheit zu kultivieren oder mit Alten zu brechen: sei es laufen zu gehen, mit dem Rauchen aufzuhören oder tiefergehende Verhaltensmuster zu verändern. All das ist schwer, wenn man es das erste Mal tut, kein Zweifel, aber ich möchte nahelegen, dass es der zweite, dritte oder vierte Versuch ist, der besondere Willensstärke erfordert, der wirklich zeigt, aus welchem Holz man geschnitzt ist.

Wieder anzufangen, nachdem man gescheitert ist, das ist das endgame, die ultimative Herausforderung. Dem Wiederanfang haftet bereits der Makel des Scheiterns an, er ist beladen mit den Komplikationen der Vergangenheit. Es wieder zu versuchen, nach einer Phase der Trennung beispielsweise, erfordert Mut und den Glauben an Veränderung; daran, dass sich etwas zum Guten verändern lässt, dass wir nicht dazu verdammt sind, unsere Fehler endlos zu wiederholen, eben nicht programmierte, tierische Automaten sind, sondern lernende und wachsende Menschen.

Bis es zu spät ist

Natürlich ist es nicht wahr, dass man immer eine zweite Chance bekommt. Genauso wenig kann man immer wieder von Neuem beginnen. Irgendwann ist auch die letzte Chance verbraucht. Irgendwann lässt sich etwas, das kaputt gegangen ist, nicht wieder reparieren. Das ist wahr. Der ermutigend gemeinte Ausspruch es sei nie zu spät ist eine Lüge, denn irgendwann ist es zu spät. Doch ehe es wirklich zu spät ist, ist es eine ganze Weile ganz und gar nicht zu spät. Es ist, im Gegenteil, zumeist genau der richtige Zeitpunkt: jetzt.

Bevor die letzte Möglichkeit verstrichen und die letzte Tür geschlossen ist, haben wir die Freiheit, immer wieder neu anzufangen. Das erfordert Mut, denn es ist zugleich auch immer ein Eingeständnis an die eigene Schwäche. Wieder neu anzufangen heißt, das eigene Scheitern zu akzeptieren, sich aber zugleich ermächtigend darüber hinwegzusetzen. Das mag alles etwas dramatisch klingen, wenn es bloß ums Laufen ginge, aber darum geht es natürlich nicht – nicht nur.

Laufen ist die disziplinierende Kulturtechnik, über die Bewegung den Körper ins Denken zu bringen. Denn die Schritte auf dem Asphalt und auf dem feuchten Waldboden setzen so viel mehr in Bewegung als meine Arme und Beine. Die äußeren Schritte setzen auch immer geistig etwas in Bewegung, bringen mich auf neue Gedanken – zum Beispiel auf diesen Text hier, den ich unzählige Male neu geschrieben habe, ehe ich einigermaßen zufrieden mit ihm war.