Brain Clock
© geralt, Pixabay

Sternstunden

Die meisten haben es bestimmt schon einmal erlebt: Es gibt diese Stunden, in denen sich das Gefühl aufdrängt, die Welt geht den Bach runter. Auch wenn es vermutlich keine echte Erkenntnis ist, weil die Welt schon seit Menschengedenken den Bach runter geht, nimmt uns hier dann doch eine Stimmung ein, die die Entwicklungen unserer Zeit geradezu verteufelt. Das kann sich dann aufbauschen. Es kann sich bis zu einer Befindlichkeit zusammenbrauen, die – dem Unwetter gleichend – die Menschheit als solche anprangern möchte.

Warum machen Menschen sowas?

In mir stellt sich diese Unwetterstimmung dann als folgende innerlich gestellte Frage dar, die ich verzweifelt und ohne Antwort in den leeren Raum meines lethargischen Zustands werfe: Warum machen Menschen sowas? – »Sowas« ist dann der Platzhalter für all jenes, bei dem die Alarmleuchte meines Sinns für Fairness rot aufleuchtet. Und bei der sie zwar leuchtet und leuchtet, mir aber beim besten Willen keine Lösung für das Problem einfallen möchte.

Da es vor allem das Gefühl der Ohnmacht ist, dass diese Unwetterstimmung anheizt, reicht es meist schon in Bewegung zu kommen, um dem Einhalt zu gebieten. Ein bisschen Sport treiben, durch die Gegend hüpfen, irgendwas berühren und in Bewegung setzen. Oder ansonsten etwas Kleines bauen, mit dem Kopf oder mit den Händen. Hauptsache nicht starr werden im komatösen Gefühl vermeintlich empathischer Empörung über das Unrecht der Welt, über die Schattenseiten des Menschseins.

Aber manchmal – und ich hoffe, man kann mir hier noch folgen – ist der Punkt bereits überschritten, an dem aus einem passiven Zustand der Empörung noch eine produktive Tat hätte werden können. Dann bin ich bereits im Limbus der Tatenlosigkeit angelangt, an dem der Verdruss über das Schlechte in der Welt zu einem masochistischen Zirkelschluss verkommt. Und doch gibt es auch in diesen Stunden der Not Hoffnung. Ja, es gibt sogar eine konkrete Kur gegen den Verdruss: Sternstunden!

Philosophische Moderationskunst

Menschen machen nun mal auch sowas! Sendungen wie Sternstunde Philosophie und Sternstunde Religion des Schweizer Fernseh- und Radiosender SRF.

Sternstunde Philosophie
© SRF

In meist einstündigen Gesprächen werden interessante Menschen aus Kultur, Wissenschaft und Politik philosophisch befragt. Und die Art dieser Befragung ist das direkte Heilmittel gegen jede Ohnmachtsstimmung: zugewandt, empathisch, kritisch, einordnend, in den richtigen Momenten kontextualisierend und immer mit der aufrichtigen Motivation, verstehen zu wollen. So kommt es zumindest rüber. Einerseits wird moderiert und »Sendung gemacht«, andererseits wirken die Moderierenden stets aufrichtig interessiert.

SRF Yves Bossart
© SRF

Yves Bossarts Feingefühl

Wenn eine sprachliche Wucht wie Senthuran Varatharajah in die Sendung kommt, noch ganz eingenommen vom rauschhaften Schreibprozess seines Erfolgsromans über die tief- und abgründigen Dimensionen der Liebe, noch ganz im Lichte seiner mystischen Erfahrung der Hin- und Selbstaufgabe, dann ist es der Moderator Yves Bossart, der das Feingefühl mitbringt, diesen Menschen für den Moment reden zu lassen. Und doch auch, im Zeichen der Sendung und der Zuschauenden, die bedeutungsschwangeren und pathetischen Aussagen seines Gegenübers abzufangen und zu erden. Sich nicht nur für die geistigen Himmelflüge zu interessieren, sondern auch für den Menschen aus Fleisch und Blut, mit dem er spricht: Senthuran Varatharajah – Über Liebe, Gott und den Tod

SRF Olivia Röllin
© SRF

Olivia Röllins Faszination für Menschen

Wenn der Zenmeister Muhō Nölke Themen und Problemlagen streift, die mit dem rationalen Verstand nicht mehr wirklich zu erfassen sind, dann ist da die Moderatorin Olivia Röllin, die sich vollkommen einlässt und sich nie scheut, noch weiter zu fragen: Kinderfragen nach Sterblichkeit, Sinn und einem immer noch tiefgreifenderen Wieso und Warum. Vielleicht, und diesen Eindruck bekommt man bei Olivia Röllin, besteht die philosophische Haltung nicht bloß darin, sich selbst und die Welt besser zu verstehen, sondern auch und vor allem den Menschen, den man vor sich hat. Ein bisschen sich heimisch zu fühlen, weil das philosophische Verstehenwollen für eine kurze Zeit zumindest so etwas wie einen geistigen Einklang zweier Menschen erlaubt: Muhō Nölke – Besser sterben mit Zen?

SRF Barbara Bleisch
© SRF

Barbara Bleisch, die unerschütterliche Philosophin

Wie geht man mit einem wild gestikulierenden, von seinen eigenen gedanklichen Eingebungen getriebenen Slavoj Žižek um, der in einem Moment ganz ungezwungen mit seiner Interviewerin flirtet und im nächsten Bruchteil einer Sekunde schon bei der Ergründung der ideologischen Funktion eines Smartphones ist? Barbara Bleisch weiß es. Immer gefasst und empathisch, so gut wie nie voreingenommen. Und auch noch in Anbetracht des unstrukturiertesten und raumeinnehmendsten Gastes unerschütterlich. Sie weiß das Gespräch in die interessanteste Richtung zu lenken, ohne ihre Gäste zu überflügeln. Und auch hier scheint stets ein aufrichtiges persönliches Interesse durch. Nirgends habe ich das ausschließliche Gefühl, es müsse eben »Sendung gemacht« werden: Down with ideology? Talk with Slavoj Žižek

Auch Wolfram Eilenberger schafft es mit seinem sprachlichen Zartgefühl immer wieder komplexe Gedanken anschaulich aufzugreifen oder heikle Gesprächslagen versöhnlich abzumildern, wenn es nötig ist. Das gesamte Moderatorinnen-Team ist ein Segen. Durch deren Herangehensweise lebt jene Hoffnung in mir wieder auf, die aufgrund schlechter Umstände in der Welt zeitweilig den komatösen Schlummerschlaf geschlafen hat. Das und die weitere Aufbereitung der Sendung lässt vermuten, dass auch diejenigen hinter der Kamera ihren Beitrag für so ein gelungenes Format leisten!

Kann eine Fernsehsendung philosophisch sein?

Ich war immer der Meinung, die Philosophie sei nicht für die Diskussion geeignet. Sie sei das Vergraben in ein Thema und das Austüfteln und Erfinden neuer Begriffe, Denk- und Sichtweisen. Produktion und nicht zwischenmenschliche Übereinkunft. Die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari schreiben dazu passend:

»Darum hat der Philosoph recht wenig Hang zum Diskutieren. Jeder Philosoph ergreift die Flucht, wenn er den Satz hört: Laß uns ein wenig diskutieren. Diskussionen eigenen sich gut für Gespräche am runden Tisch, es ist aber ein anderer Tisch, auf dem der Philosoph seine Ziffern auswürfelt. Die Diskussion, und niemand wird das leugnen können, würden die Arbeit nicht voranbringen, da die Gesprächsteilnehmer niemals von derselben Sache sprechen. Daß einer diese oder jene Meinung hat und eher das eine als das andere denkt – was kann das die Philosophie angehen, solange die Probleme, die auf dem Spiel stehen, nicht ausgesprochen sind? Und wenn sie ausgesprochen sind, so geht es nicht mehr ums Diskutieren, sondern darum, unbestreitbare Begriffe für das Problem zu erschaffen, dem man sich verschrieben hat. Die Kommunikation kommt stets zu früh oder zu spät, und das Gespräch bleibt stets überflüssig gegenüber dem Erschaffen.«

Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? 6. Aufl. Frankfurt a. M. 2014. S. 35f.

Deleuze, der in den 1970/80er-Jahren die akademische Philosophie aufgemischt hat, stand Diskussionsrunden und besonders medial aufbereiteten äußerst kritisch gegenüber. Deshalb gibt es auch kaum Aufzeichnungen von ihm. Außer dem knapp zehnstündigen filmischen Monument Abécédaire – Gilles Deleuze von A bis Z. Im Grunde ein Monolog zur Kamera, ein lautes Denken und Philosophieren an alphabetisch sortierten Begriffen entlang. Das ist Philosophie, ohne Zweifel. Aber mittlerweile denke ich auch, anders als Deleuze, dass das Auftauchen aus der grüblerischen Versenkung, das aufrichtige zwischenmenschliche Interesse, ebenso Philosophie ist oder zumindest zu einer philosophischen Haltung gehört.

Man kann nicht nur Begriffe, Systeme und Geistiges ergründen, sondern auch die bodenlose Tiefe seines Gegenübers. In dem Sinne ist Philosophie auch, sich mit anderen Menschen verbunden und heimisch zu fühlen. Verstehen zu wollen bedeutet dann, endlich einmal ankommen zu wollen. In der Welt, aber auch bei dir, der du mich anschaust. Die Moderatorin Olivia Röllin hat auf ihrer Webseite ein Zitat von Novalis, dem deutschen Romantiker, das passender nicht sein könnte: »Philosophie ist Heimweh, Trieb überall zuhause zu sein.«

Philosophie befreien!

Ja, eine Fernsehsendung kann also philosophisch sein! Es wäre sogar schön und wünschenswert, wenn Philosophie sich noch weiter ausdehnen darf. Wenn sie sich nicht nur vom Bild des grüblerischen Monologs befreit, sondern als eine Haltung und Lebenseinstellung auch irgendwann von allen klassistischen Vorurteilen und Anforderungen.

Niemand braucht mit verschränkten Beinen dazusitzen, das Kinn nachsinnend auf die Hand gestützt, um philosophieren zu können. Niemand braucht ein zurechtgemachtes Äußeres, Geld, Designermöbel oder Weingläser, um verstehen zu wollen. Niemand braucht irgendeine feingeschliffene Art der Sprache und des Ausdrucks, um davon getrieben zu sein, überall zuhause sein zu wollen. Und nein, eine Philosophin braucht auch kein Buch gelesen zu haben. Wirklich kein einziges. Die Art von philosophischem Lebensdurst, die ich meine, ist an nichts dergleichen gekoppelt und ist noch eher in den aufgeschlossenen Augen eines Kindes zu finden als in jedem noch so fehlerfrei und bildungssprachlich formulierten Satz. Es ist auch genau diese Aufgeschlossenheit, die die philosophischen Sendungen des SRF so großartig macht. Sendungen, die mir die Stunden des Verdrusses oder der Ohnmacht immer wieder in Sternstunden verwandeln.

Deswegen geht folgendes an alle, die Philosophie einem breiteren Publikum zugänglich machen und Heimat finden wollen, in einer Welt, die einen auch manchmal verdrießlich stimmen kann: ❤