a dancer feels the ground

Stärke

In Bezug auf Stärke verschätzen wir uns immer wieder. Sie ist unsichtbar, unvermittelbar. Sie ist gerade dort, wo der Blick nicht hinreicht. Weil er zu viel sieht. Stärke untergräbt den Determinismus und die Berechnung. Sie ist Überwindung und Befreiung.

Ob jemand stark ist, lässt sich mit Empathie nicht ergründen, mit Einfühlung nicht erfühlen. Sie ist ein Wechsel der Handlungsebene. Das Augenzwinkern als Antwort auf eine Entscheidungsfrage. Die Enttarnung und Entschärfung einer Double-Bind-Situation.

Es bleibt unergründlich, welcher Aufgabe sich jemand verschrieben hat. Und diese Aufgabe wäre der einzige Gradmesser für Stärke. Es ist in der Regel, dass hier falsch ausgewogen wird. Dass die Wage, das Gewogene, die Einheit und selbst schon das Maßsystem fehlgreifen.

Den besten Reiseführer schreiben diejenigen, die in der beschriebenen Gegend beheimatet sind. In manch einem ängstlichen, gequälten oder unscheinbaren Gesicht ist die Tiefe eines ganz eigenen Wissens eingezeichnet, das sich nur erahnen lässt. Auch Oberflächen können unergründlich sein. Der Wille zur Deutung zerschellt nicht in der Tiefe, sondern am Naheliegenden. Und wo das Verständnis endet, beginnt die Poesie.

Poetisch ist die Haut, die zuallererst spür- und fühlbare. Sie ist greifbarer als jede Maske und braucht auch nicht ergründet zu werden. Wer diese Poesie des Naheliegenden ertastet, weiß auch: Sie ist unbestreitbar. Daher die Stärke.

Ein abrupter Kurswechsel muss keine Schwäche sein und aus Gefügigkeit geschehen, sondern kann auch aus Neugier für das Unbekannte unternommen werden. Eine Einsicht kann auch ein Zugeständnis sein, selbst wenn der Gestehende noch längst nicht so wirklich versteht. Es gibt intuitives Selbstbewusstsein, wo aus dem Körper heraus das Signal kommt, das die neue Richtung erlaubt. In dankender Annahme.

Wie stark kann jemand sein? Unermesslich stark. Stärke ist jenseits von Interpretation, Einfühlung und Empathie. Um sie dort zu erraten, braucht es Zutrauen: »Sie kann das schon ertragen«, »Er wird das schon schaffen«. Auch wenn es nicht so aussieht: Sisyphos wird auch den nächsten Stein noch bis zum Gipfel rollen, wenn es sein muss. Und was sagt Albert Camus nochmal über Sisyphos? – »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« – Ich für meinen Teil will sogar daran glauben, dass er den Gipfel überwinden kann.