Sex Education Cover
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Sex Education

Die Coming-of-Age-Serie »Sex Education« ist einfach wundervoll! Es gibt hier und da ein paar formale Schwachpunkte, aber das ist egal. Die grundlegende Ambition ist an jeder Stelle hörbar: Es geht um Befreiung von Unterdrückung, Fairness und einen mitfühlenden Umgang miteinander.

In Eric kommt dieses Motiv für meinen Geschmack am augenscheinlichsten zum Ausdruck. Nur initial geht es darum, dass er sich als schwuler Junge in einer heteronormativen Gesellschaft zu positionieren versucht. Darüber hinaus geht es um mehr, um etwas Universelles, also etwas, das jeden betrifft: das unmaskierte Ausleben des eigenen Charakters in einer uniformierten Welt. »Uniformierte Welt« klingt drastisch. An sich muss es das aber nicht, da es mehr eine Metapher ist, statt eine Realität beschreibt. »Uniformiert« beschreibt eher eine Form der Unterdrückung, die darauf beharrt, aus Unterschieden eine Einheit zu machen, aus dem organischen Leben eine formale Struktur.

Eric findet eine Ausdrucksform für sein Innenleben. Er schminkt, kleidet und gebärdet sich extravagant, eben weil das so am ehesten seinem Gefühlsleben entspricht. Er ist dabei immer empathisch und wahrt die Grenzen seiner Mitmenschen.

Sex Education Eric und Otis
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Die Serie spielt das Uniformieren in Staffel 3 selbst durch. Manche fühlen sich auch gar nicht schlecht in Uniform. Manchen ist es nicht wichtig, eine besondere, ihr Innenleben widerspiegelnde Farbe nach außen zu tragen. Oder die Uniform spiegelt ihr Innenleben bereits ganz gut wieder. Aber – und das exerziert die Serie ganz großartig durch – es gibt eben auch einige, die untergehen, für die die Uniform nicht repräsentabel ist, die sich nicht bloß unterdrückt fühlen, sondern wirklich der Last einer formalen Herrschaftsstruktur ausgesetzt sind, in die sie nun mal nicht reinpassen.

Ich selbst habe mich manchmal beim Schauen der Serie bei dem Gedanken erwischt: »Das ist doch jetzt ›too much‹. Es gibt doch eine Grenze des Auslebens. Es muss doch nicht alles mit so einer überspannten Exzentrik nach außen getragen werden. Warum nicht ein bisschen anpassen?« Mit ein bisschen Abstand zu diesen Gedanken und vor allem im Mitgefühl für mich und meine Mitmenschen, komme ich zu der Überzeugung, dass darin keine Wahrheit steckt, sondern nur ein herrschaftlicher Reflex. Ich spüre dann auch die subtile Gewalt meiner Gedanken. Ich spüre den Versuch, mich irgendwie doch überlegen zu fühlen. Da sprechen hunderte Jahre Patriarchat aus mir. Es gibt da einen kurzen evolutionär bedingten Angstimpuls in mir – vor Andersartigkeit. Da sprengt jemand die Kategorien, die ich kenne. Ich kann nicht einordnen. Ich bin dem Chaos und der Unberechenbarkeit ausgesetzt. Alles bunt und jede Form von Leben findet ihren eigenen kulturellen Ausdruck. Das kann verunsichern! Es ist aber nicht zeitgemäß und nicht vernünftig, diesem Impuls nachzugehen.

Es braucht keine Uniformierung, Absicherung und Unterdrückung. Es braucht nur Mitgefühl und es ist ja gerade die absurde Wendung der patriarchalen Unterdrückung, eben jenes Mitgefühl in ihrer Herrschaft erstickt zu haben. Und mit ihr auch alle anderen Gefühle. Das heißt nicht, dass es keine gesellschaftliche Übereinkunft mehr braucht. Die braucht es. Aber für eine gerechtere Welt täte es erstens gut daran, in ihr Maß zu halten. Will heißen: Mehr Toleranz für Andersartigkeit zulassen. Und zweitens, Fehltritte und Abweichungen der Ordnung, die niemandem weh tun(!), mit keinem übertrieben Herrschaftsgestus entgegenzutreten.

Sex Education Eric Effiong (Ncuti Gatwa)
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»Sex Education« spielt das alles wunderbar durch! Oft geht es im Coming-of-Age-Genre darum, wie noch unausgebildete und ungeordnete junge Menschen ihren Platz in der Welt suchen. Sie machen verschiedene Entwicklungsschritte durch, erklimmen Hürden und reflektieren ihren eigenen Charakter, um ihren Weg zu finden. Meistens sind das vorgezeichnete Wege. Rollen, die sie für sich annehmen. In »Sex Education« ist dieser Weg nicht vorgezeichnet. Eric lehnt im entscheidenden Moment die Taufe ab. Er fügt sich nicht in seine Glaubensgemeinschaft ein, da diese sein Schwulsein ablehnt. Dennoch entscheidet er sich, Pfarrer zu werden. Ein schwuler, tanzender, exzentrischer Pfarrer vermutlich. Wie viel Gewalt steckt darin, einem schwulen jungen Menschen abzuverlangen, seine sexuelle Orientierung zu verleugnen, nur um dazuzugehören? Dabei tut »schwul, tanzend und exzentrisch« niemandem weh!

Eric trifft die genau richtige Entscheidung. Er möchte dieser Gemeinde nicht angehören. Aber er fühlt auch, dass Jesus’ Botschaft, Liebe und Mitgefühl in die Welt zu bringen, sein Auftrag und sein Weg sind. Gerade, weil er sich von der Unterdrückung einer ganzen Gemeinde lossagt, freiwillig das Exil in Kauf nimmt, ist er dazu befähigt, diesen Weg zu gehen. Er entscheidet sich trotz Exil, letztlich Pfarrer zu werden. Nicht als Repräsentant einer Herrschaftsordnung, sondern als einer, der seinem Gefühl folgt, Liebe in die Welt zu bringen. Er fügt sich nicht – entgegen seinem Gefühl – einer Rolle, sondern gerade sein Gefühl weist ihm seinen Weg! Er findet keine Rolle, sondern er erfindet sie.