a man playing guitar, weird face

Schieflage

Es gibt viele Möglichkeiten, die Dinge gut zu tun. Man sagt, jeder kann irgendetwas gut. Und niemand fühlt sich gerne unzulänglich. Eine Katze miaut. Ein Hund bellt. Und ein Mensch steht eben mit beiden Beinen auf der Erde. Das ist das Mindestmaß seiner Güte. Im Sinne von Qualität.

Wie ein ungebetener Gast schleicht sich dann und wann der Gedanke ein, dass die Gütesiegel der Menschheit gar keine Auszeichnungen sind. Sie sind Pflaster, die eine anhaltend eiternde Wunde unzulänglich zu verdecken versuchen. Nicht um zu heilen, sondern um vor dem Anblick des Hässlichen zu bewahren.

Kongruenz fühlt sich besser an als Inkongruenz: Er steckt sich ein Ziel und erreicht es. Sie bemerkt ihre Begabung und erfüllt sie. Er singt den richtigen Ton. Sie betätigt die Klospülung, nachdem sie scheißen war. Die Blüte blüht, die Katze miaut und der Hund bellt. So ist das Bild gerade. Und alles an seinem rechten Platz. Wenn schon nicht überirdisch gut, so doch zumindest so gut, dass es ausreicht. Ja, aber wozu denn eigentlich ausreicht? Um anerkannt zu sein? Um ein Bild abzugeben, das anschaubar ist? Inkongruenz ist die eiternde Wunde und der Zellverfall. Sie ist das schiefe Bild, das niemand sehen will, der schiefe Ton, den niemand hören will. Sie ist der Staub unter dem Bett, die nässende Wunde hinter dem Pflaster und die unsauberen Fehlgriffe einer Improvisation.

Unerträglich ist der Gedanke, dass jemand in nichts gut ist, nichts erfüllt und alles verfehlt. Dass es nichts Erinnerungswürdiges zu erzählen gibt. Dass dessen gesamte Existenz eine Schieflage ist und die Grabesrede nur ein absurder Deckmantel der Beschwichtigung.

Lieber an sich selbst glauben. An die Menschheit glauben. An die Kultur und an den Fortschritt. So lässt sich der Anblick besser ertragen. Lieber sich vom schimmernden Apfel verführen lassen statt die Wirklichkeit seines fauligen Inneren zu offenbaren. Ja nicht den tautologischen Schleier entfernen, der die Oberfläche immerfort durch sich selbst bestätigt. Was glänzend ist, glänzt. C-Moll klingt wie C-Moll. Und das Pflaster sieht aus wie ein Pflaster. Soweit sollte der Blick reichen, aber nicht weiter.

Nicht, dass sich einmal die Welt verkehrt und sich das Unterirdische zeigt, plötzlich Schreie in G-Dur alle Ohren einnehmend ein inkongruentes Bild zeichnen. Abbruch! Ohren zuhalten. Die Katze miaut, der Hund bellt und der Mensch steht mit beiden Beinen auf dem Boden.

Edvard Munch: Der Schrei.
© Edvard Munch: Der Schrei. 1910. Öl und Tempera auf Pappe

Worauf bezieht sich Liebe? Auf das Pflaster oder die Wunde? Die Liebe zum Pflaster ist jedenfalls leichter zu leben.