Rilke Buchcover Liebe
© Björn Höller

Rilke rauskramen

Man lernt sich kennen und verbringt eine intensive Zeit miteinander. Ein Wort trifft mitten ins Herz. Ein Ratschlag überdauert vielleicht. Frühling wird Winter und dann geht man getrennte Wege. Man vergisst und eines Tages – vielleicht beim Wäsche aufhängen oder beim Warten vor einer roten Ampel – fällt es einem wieder ein: »Irgendwie fehlt mir Rilke!«

Dann der Blick ins Bücherregal. Da ist doch irgendwo dieses vergilbte kleine Insel-Taschenbuch mit zerfledertem Einband und ausgefransten Seiten. Das Buch mit dem kitschigen Aquarell-Cover und dem noch kitschigeren Titel »Es gibt nur – die Liebe«. Ja, da ist es! Ein Wiedersehen.

Und irgendwie fühlt es sich ein bisschen so an, als wäre ich gerufen worden. Meine fast verschwundene Erinnerung an diese paar unbedeutende Seiten bedrucktes Papier ist ohne jeden Zusammenhang an die Oberfläche meines Bewusstseins getreten, hat meine Hand – begleitet von meinem suchenden Blick – über Buchrücken streichen lassen und mich geradewegs wieder zurückgeführt zu Sätzen, die mich mal berührt haben. Die mich anscheinend so sehr berührt haben, dass in meinem Inneren ein diffuser Abdruck zurückgeblieben ist, der jetzt nach Klärung verlangt.

Das ist das Magische! Eine echte, tiefe Berührung überdauert. Auch wenn man sich ihrer manchmal – oder vielleicht auch nie – bewusst erinnert. Dazu gehört die Bereitschaft, sich zu öffnen, sich ein Stück weit zu verlieren und Veränderung entgegenzunehmen. Sich in dieser Weise auf einen Menschen einzulassen, kann erschreckend sein. Aber auch die Sätze eines Buches so ohne jeden Schutzwall in sich aufzunehmen, ist keine Alltäglichkeit. Und trotzdem lohnt es sich.

»Leben ist ja gerade Sichverwandeln, und menschliche Beziehungen, die ein Lebensextrakt sind, sind das Veränderlichste von allem, steigen und fallen von Minute zu Minute, und Liebende sind diejenigen, in deren Beziehung und Berührung kein Augenblick dem anderen gleicht.«

Rainer Maria Rilke

Jetzt fällt es mir wieder ein! Was war das Besondere an Rilkes Sprache? Sie richtet sich an alle und keinen. Da spricht jemand aus voller Einsamkeit und Liebe. Eine ungebundene Sprache. Das muss man vielleicht kurz erklären: Rilke versteht unter Liebe gerade nicht, an etwas festzuhalten, jemanden besitzen zu wollen oder die Leere in sich zu füllen. Liebe ist dagegen für Rilke Loslassen und den Geliebten/die Geliebte gehen zu lassen (Beschützer seiner/ihrer Einsamkeit zu sein). Liebe ist eigene innere Fülle, die verschenkt werden will.

»Je mehr man ist, je reicher ist alles, was man erlebt. Und wer in seinem Leben eine tiefe Liebe haben will, der muß sparen und sammeln dafür und Honig zusammen tragen.«

Rainer Maria Rilke

Deshalb versetzen einen Rilkes Worte in einen schwerelosen Zustand. Da verschenkt sich jemand ohne Bindung. Jedes Wort schwebt über einem Abgrund. Jede Bedeutung ist sich ihrer Vergänglichkeit bewusst. Rilke versteht die Liebe als kosmische Kraft und nicht als »Ich will«.

»[Liebe] ist so vollends zum Weitergeben bestimmt über jeden hinaus; sie braucht den Geliebten nur, damit er ihr den äußersten Schwung gäbe für ihren weiteren Kreislauf zwischen den Sternen.«

Rainer Maria Rilke

Eine Verbundenheit, die das Alltägliche übersteigt, die sich gerade dann einstellt, wenn man bereit ist, alle Verbindungen loszulassen: das ist für Rilke Liebe.

»Es gibt nur einen tödlichen Fehler, den wir begehen können, dies ist, daß wir uns aneinander binden, selbst nur für einen Augenblick.«

Rainer Maria Rilke

Was für ein wunderschönes Wiedersehen, Wiederhören! Die Sonne geht langsam unter und ich stelle das Buch zurück ins Regal, wo es – das hoffe ich – für lange Zeit verborgen bleibt, bis ich es vergesse. Irgendwann in vielen Jahren stehe ich dann vielleicht vor einer roten Ampel, währenddessen sich eine verhüllte Erinnerung in mir – kaum merkbar – zu Wort meldet und mich ans Bücherregal führt …

»Ist es nicht schön zunächst, sich zu versichern, daß die Liebe zu solcher Stärke führen kann, daß mit ihr im tiefsten Grunde etwas gemeint ist, was uns ganz übersteigt, und daß das Herz trotzdem die Kühnheit hat, dieses Über-uns-Hinausgehende zu unternehmen, diesen Sturm, für den eine ganze Schöpfung nötig wäre!«

Rainer Maria Rilke