Raetsel des Unbewussten Cecile Loetz Jakob Mueller Buchcover
© Björn Höller

Rätselhafte Menschen

Keine Abziehbilder von Menschen, Masken, verkrümmte Oberflächen, die es geradezubiegen gilt, sondern echte Menschen, mit komplexen, wohl nie ganz durchschaubaren, Psychen! Das kürzlich erschienene Buch »Mein größtes Rätsel bin ich selbst. Die Geheimnisse der Psyche verstehen« vom Podcast-Duo Cécile Loetz und Jakob Müller hat so viel Tiefe und Einfühlung jenseits theoretischer Deutung, dass es mitunter eine Herausforderung darstellt.

Falsche Enttäuschung

Beim Aufschlagen des Inhaltsverzeichnisses war ich zunächst ein wenig enttäuscht: Nur vier Fallgeschichten. Sehnsüchtig hatte ich auf das Buch gewartet. Der Podcast der beiden Autoren begeistert mich schon seit langem (Rätsel des Unbewußten auf Spotify). Jetzt würde es auch ein Buch geben! Was für ein Gewinn! So viele Seiten für weitere Berichte psychoanalytischer Therapieverfahren. 300 Seiten und dann doch nur ein Einblick in vier Geschichten? Später stellt sich aber heraus: Ich habe mich vollkommen verschätzt. Die Geschichten brauchen den Platz! Mehr noch sind es die Menschen, von denen erzählt wird, denen erzählerischer Raum gegeben werden muss, um wenigsten ein bisschen nachvollziehen zu können, was in ihnen ist, was sie bewegt und ausmacht.

Deshalb ist das Buch auch eine Herausforderung. Es lädt dazu ein, die Schwierigkeiten der dargestellten Personen nachzuvollziehen, statt sie vorschnell einzuordnen.

Innenleben

Was verbirgt sich hinter der scheinbar unauflösbaren affektiven Teilnahmslosigkeit von Konrad? Wie kommt es zustande, dass Maike sich immer wieder selbst im Weg steht? Welcher Schrecken ist in den irrationalen Gebärden und dem unantastbaren Schweigen des Kindes Shadi eingeschlossen? Inwiefern hängt das mit seiner Mutter Aliya zusammen? Und was für ein Mensch steckt hinter dem Etikett »Narzisst«, mit dem Tom versehen ist?

Mir ist, als hätte ich alle diese Menschen wirklich kennengelernt. Dem ist natürlich nicht so, aber es spricht für die Qualität des Buches, dieses Gefühl in mir hinterlassen zu haben. Jeder Bericht ist auch gespickt mit psychoanalytischen Erklärungsansätzen, die aber immer ganz vorsichtig in eine Richtung weisen, statt fixe Antworten zu liefern. Es gibt keine endgültigen Lösungen und auch keine alles beherrschenden Diagnosen, sondern dargestellt wird die unergründliche Verfasstheit menschlichen Innenlebens.

Es ist schwer, Worte für das zu finden, was sich in Tom vollzieht – nicht alles, was in einem Menschen geschieht, kann mit Worten gesagt werden, nicht alles, was in einer Psychoanalyse geschieht, muss von Worten begleitet werden.

Loetz/Müller: Mein Größtes Rätsel bin ich selbst. Die Geheimnisse der Psyche verstehen. S. 276

Das Rätsel »Mensch«

Haben wir nicht das Gefühl, dass wir gerade dort, wo wir keine Begriffe und Konzepte mehr finden, einem Menschen wirklich nahe sind? Dass wir an der Grenze zur Wortlosigkeit jemandes Einzigartigkeit entdecken? Dass wir das Rätsel, das jemand ist, vor uns sehen. Nicht, weil wir es jetzt endlich verstehen, sondern weil wir bemerken, dass es unermesslich ist. Deswegen ist eine Beziehung ein Prozess und kein Standbild. Das Prozesshafte wird in den Fallbeschreibungen eindrücklich wiedergegeben. Es gibt keine in Stein gemeißelten Diagnosen mit schablonenhaften Schritten in die Gesundheit. Viel mehr werden Beziehungsverläufe erzählt. Beziehungen, in deren Mitte eine psychische Bewegung stattfindet. Träume mischen sich in die Wahrnehmung, längst vergessene Erinnerungen tauchen auf, Tränen brechen sich Bahn. Und der/die Analytiker*in hält den Raum, begleitet auch auf unwegsamen Pfaden, wird ganz konkret Teil einer turbulenten psychischen Umstrukturierung. Nicht als stiller Beobachter, sondern stets involviert.

Beziehung ist der Stoff, aus dem unsere Psyche ist – wir erfahren von anderen, wer wir sind.

Loetz/Müller: Mein Größtes Rätsel bin ich selbst. Die Geheimnisse der Psyche verstehen. S. 10

Zeit und Zuwendung

Auch die Wiedergabe der Therapieverläufe geschieht weder mit rein sachlicher Distanz noch mit reißerischem Erzählton. Die Worte, die das Autoren-Duo findet, sind stets durch eine achtungsvolle Haltung gegenüber den Menschen gefärbt, von denen erzählt wird.

Es ist gerade heutzutage wirklich schön, diese Geschichten zu lesen. Ich wurde als Leser ganz emotional in die Therapieverläufe verwickelt, habe mitgefiebert und nachempfunden. Auch wenn mir vieles davon so fern ist, gehört doch so einiges in abgeminderter Form zum Menschsein an sich. In Resonanz damit gehen konnte ich allemal. Die Erzählungen gehen an die Substanz. Das ist irgendwie ungewohnt. Schnelle Erzählungen, kurzlebige Affekte, prägnante bis plakative psychologische Deutungen beherrschen viel eher den Zeitgeist. Ich finde das gar nicht schlecht und sehe es auch nicht als ein Zeichen von Verflachung. Dennoch erinnert Loetz’ und Müllers Buch daran, dass es auch eine Tiefe des menschlichen Innenlebens gibt, die sich nur über die Zeit hinweg und durch intensive Zuwendung entfalten kann. Ein Buch ist das richtige Medium, um diese Erkenntnis zu vermitteln.

Deutlich wird auch, dass die Psychoanalyse kein zielloses Herumstochern in alten Wunden ist. Sie ist bestenfalls die Begleitung einer intensiven psychischen Entwicklung zu einem besseren Leben hin. Die erste Fallgeschichte um Konrad gibt dafür ein ausdrucksvolles Bild ab:

Konrad lebt, aber doch nicht so richtig. Im Therapieraum fehlt die emotionale Resonanz. Er wirkt am Leben nicht ganz beteiligt. Irgendwie verloren und kontaktlos. Selbst das Gefühl der Trauer ist ihm zunächst fern. Er spürt nur, dass er nicht so wirklich vorankommt im Leben, dass andere an ihm vorbeileben, er an anderen vorbeilebt. Die Melancholie und existenzielle Not dieser Geschichte geht unter die Haut. Da ist ein tiefer Verlust, eine unsagbare Trauer unter allem, die aber nie ganz ins Leben drängt, weil sie vernichtend wäre. Aber um einen Kontakt herzustellen, zu den eigenen Gefühlen, zu anderen Menschen, zu den Farben des Lebens, muss zunächst einmal diese Trauer in Gang gesetzt werden. Das ist unumgänglich. Was für eine sensible Feststellung! Es geht nicht darum, sich möglichst schnell wieder gut zu fühlen. Es geht darum, zu fühlen. Und das kann je nach der bis dato wirksamen psychischen Abwehr und den noch ungefühlten Gefühlen erschütternd sein. Ein riskantes Unterfangen.

Es ist in jeder Therapie eine heikle Phase, wenn ein Patient in Kontakt mit dem verletzten Selbst kommt, seine Abwehr aufgibt, die Türen zu lang verschlossenen Kammern öffnet. Zugleich kann nur so etwas Neues entstehen. Denn es geht ja gerade darum, die Erfahrung zu machen, dass man die Abwehr nicht mehr braucht, dass es heute anders ist als gestern. Der Kontakt mit der eigenen emotionalen Welt kann heilsam sein – oder überwältigend. Manchmal ist es ein schmaler Grat.

Loetz/Müller: Mein Größtes Rätsel bin ich selbst. Die Geheimnisse der Psyche verstehen. S. 59

Psychoanalyse als eine Begleitung auf dem Weg der Enthemmung blockierter Gefühle, der Entwirrung verwirrter Zustände, der Dynamisierung ins Stocken geratener Einstellungen, die allesamt mit einer kaum greifbaren Leiderfahrung einhergehen. Ich finde, das Buch gibt einen erhellenden Einblick in diesen befreienden Prozess und ist dabei durchweg unterhaltsam und einnehmend. Sicherlich werde ich es irgendwann ein zweites Mal lesen. Einzig das Buchcover wird in seinem illustrativen Stock-Foto-Charakter der eigentlichen Intensität des Inhalts nicht gerecht. Aber hierfür gelten ja auch die marktschreierischen Regeln des Wettbewerbs: das Gegenteil von Zuwendung und Zeit.