Die beiden Hauptfiguren aus Pen-Ek Ratanaruangs "Last Life in the Universe" lümmeln lethargisch auf dem Sofa herum.
© Five Star Productions | Fortissimo Films

Mut zur Langeweile

Ich lebe in einem Zustand der Dauerbeschallung. Morgens beim Frühstück läuft ein Podcast oder Netflix, im Bus Musik, beim Abendessen wieder der Fernseher und beim Einschlafen ein Podcast mit Sleep Timer. Ich glaube, das ist nicht gut. Ich möchte etwas daran ändern. Denn ich habe einen Verdacht: ich wurde von der Langeweile nicht geheilt, sondern habe mit ihr etwas unendlich Wertvolles verloren. 

Lethargische Sommerferien

Ich muss mich an die lethargischen Tage meiner Kindheit und Jugend zurückerinnern – an die Langeweile der Sommerferien etwa. Und daran, wie sich die Langeweile mit der Zeit in etwas anderes verwandelte – wie ich es verwandelte. In der Langeweile gebar sich etwas. Eine andere Welt, eine verrückte Idee, viele dumme Ideen. Dieser unbespielte, unbeschallte Raum hat etwas bedeutet. In dieser Zeit erlebte ich meine eigene Selbstwirksamkeit unmittelbar. Ich musste dazu weder diesen Begriff kennen noch das Konzept dahinter. Es war ganz selbstverständlich Teil meines Lebens, schöpferisch tätig zu werden, wenn mir die Welt nicht genügend Stimulanz geboten hat (was auf dem Dorf ziemlich oft passiert). Die Lücken zu füllen, die leeren Seiten zu beschreiben, war eine andauernde, erfüllende Aufgabe.

Ich habe lange Phasen meines Tages damals ohne Musik oder Podcast verbracht. Stattdessen hörte ich das Blätterdach des Baumes vor meinem Fenster; meine Schwester, die im Nebenzimmer ihre Blockflöte malträtierte; die knarrenden Holzdielen im Wohnzimmer, auf denen man jeden Schritt vernehmen konnte. Manchmal machte ich mir eine Übung daraus, diese vollkommen geräuschlos zu passieren. Ich stand in Resonanz zur Welt, die mich umgab. Heute habe ich das Gefühl, dass diese Resonanz verlorengeht.

Resonanz erfahren

Gerade im Winter empfinde ich das: dick eingepackt, mit Mütze, Schal und Kopfhörer (vielleicht sogar mit Maske) sitze ich im Zug oder Bus und bin meine eigene kleine Insel. Ich schaue unterwegs selten auf mein Smartphone, schaue mich stattdessen um. Darum sehe ich die anderen Inseln. Eingepackt und akustisch isoliert wie ich. Der Blick auf das Smartphone gerichtet.

Zuhause schaue ich Serien oder Filme, lese Bücher, versenke mich in die Fantasien anderer, mit denen ich auf intime, aber zugleich anonyme Weise verbunden und nicht verbunden bin. Das soll nicht kulturpessimistisch klingen. Ich mache auch Resonanzerfahrungen. Ein schöner Abend mit Freunden oder der Familie. Ein gutes Gespräch. Laufen gehen, Sport und Bewegung allgemein. Spazierengehen im Wald. Sich konzentriert einer Sache widmen: schreiben oder handwerklich tätig werden, mit den Händen greifen und arbeiten. Hier mache ich Resonanzerfahrungen, fühle mich als Teil einer materiellen Welt.

Raum für Neues

Was also ist der Punkt dieses Textes? Ich möchte mehr Resonanz erfahren. Mehr Räume der Stille schaffen. Leerräume kreieren, um Platz für Neues zu haben – für Ungeplantes, Ungedachtes, Ungemachtes. Weniger konsumieren, mehr schöpferisch tätig werden. Selbstwirksam sein. Sich selbst als Kraft in dieser Welt empfinden, die man nicht nur anschauen, sondern auch gestalten kann. Die Langeweile ist die Wiege dieses schöpferischen Impulses. Also: ich will mich wieder langweilen. Und ich will es aushalten in der Langeweile. Bis der Drang, die Leere mit Ablenkungen und Lautstärke zu füllen (und dabei unerfüllt zu bleiben), wieder gegangen ist. Und der Weg frei für das Unerwartete.