Marzipanrohmasse
© Björn Höller

Marzipanrohmasse

Marzipan scheidet die Geister: Entweder man liebt es oder man hasst es. Meist gibt es nichts dazwischen. So meine Erfahrung. Jedenfalls habe ich selten jemanden getroffen, der Marzipan gegenüber neutral eingestellt wäre. Irgendwas an seiner Konsistenz oder seinem Geschmack berührt. Marzipan lässt die wenigsten kalt und lockt sogar die verschlossenste, ja selbst die affektärmste unter uns aus sich heraus. In die eine oder andere Richtung, »Baah, eklig!« oder »Ich liebe Marzipan!« ist dann der Ausruf.

Ich will mich auch outen. Denn, wenn es um die angenehm eigenartige Konsistenz und den vollmundigen Geschmack der Mandel-Zucker-Masse geht, kann auch ich mich nicht zurückhalten und muss sogleich gestehen, nein stolz verkünden: Marzipan ist das Beste!

Der erste Mensch, der die Idee hatte, Mandeln zu blanchieren und mit Zucker zu Marzipan zu verarbeiten, darf sich ewig als Scheider der Geister und für mich persönlich auch als Held bezeichnen. Die Konsistenz ist unvergleichlich. Das Zergehen im Mund kann mit Worten nicht beschrieben werden. Es ist weder einfach nur klebrig, noch mit anderen Lebensmitteln in seinem Mundgefühl vergleichbar. Die körpereigene Feuchte des Munds steuert den perfekten Anteil bei, um aus einer abgeschlossenen Masse ein wohlig zerfließendes, aber dennoch relativ bissfestes Gebilde zu verwandeln.

Marzipan ruft zur Achtsamkeit auf! Kein schnelles Vertilgen, halbherziges Zerkauen oder voreiliges Verschlucken sind möglich. Die Konsistenz selbst verlangt einen andächtigen Genuss. Und den darf sie – bereitwillig und ohne Widerruf – gerne bekommen! Es entsteht ein Gespräch. Genuss ist kein einfaches »Ich will« und »Ich nehme« mir, sondern ein würdevolles Zuhören, ich würde sogar sagen ein aufmerksames Lauschen des persönlichen Ausdrucks seines Gegenübers. Auch Marzipan hat einen solchen Ausdruck. Seine Oberfläche braucht einen ganz anderen Nasch-Stil als viele seiner Mitstreiter im Süßwarenregal. Es scheint ihm um die Verweildauer und die spezifische Kau- und Zungenarbeit im Mund zu gehen. Es enthebt den Vorgang des Verzehrens seiner Funktionalität. Es geht nicht um die schnelle Sättigung. Es geht vielmehr um das Entzerren des Essablaufs. »Verweile doch, du bist so schön!«

Ich bin der Meinung, die Marzipanrohmasse braucht an sich schon so viel Aufmerksamkeit, um ihr Potenzial auch nur ansatzweise zu erfassen, dass jede noch so ausgeklügelte Idee ihrer Erweiterung nur eine unnötige Ablenkung darstellt! Mit Schokolade umzogen? Mit Pistazien gesprenkelt? Zu kleinen Kartöffelchen verarbeitet? Alles konsumistische Finten! Allenthalben Illusionen, um die ursprüngliche Prägnanz der Rohmasse zu verhöhnen! Meistens wird dann auch der Mandelanteil herabgemindert und der Zuckerteil erhöht. Eine traurige Verkleidung! Ich möchte dazu aufrufen, dass sich bitte niemand diesem karnevalesken Trauerspiel hingibt. Ich denke sogar, wenn Marzipan einen Willen hätte, würde es lieber gehasst und mit einem »Baah, eklig« versehen statt so dermaßen verkannt zu werden.

Es geht mir nicht um irgendeinen verqueren Reinheitsgedanken. Bitte alles vermischen und mit allem experimentieren! Auch mit Marzipan. Es geht mir nur um den inhärenten Anspruch, den die Rohmasse zu kommunizieren scheint. Sie ist eine Herausforderung und die meisten Versuche der Vermischung sind aus dem Wunsch heraus geboren aufzupeppen. Und das empfinde ich als beleidigend dem Marzipan gegenüber!