Es gibt viele Gründe, warum Kaffee kalt wird. Vielleicht sind wir so in unsere Aufgabe oder Leidenschaft vertieft, dass wir darüber den noch brühwarmen Kaffee vergessen. Das ist gut. Vielleicht sind wir abgelenkt, nur zwei Blicke zur Seite und schon ist aus dem heißen aromatischen Kaffee eine Art undefinierbare abgekühlte Flüssigkeit geworden. Jene ist fast kein Getränk mehr. Sie ist etwas Vergessenes. Etwas, dass seine ihr eigentlich zugedachte Form verloren hat. Abgestanden. Ausgekühlt. Ungenießbar?
Es gibt auch das umgekehrte Problem. Wir widmen dem Kaffee zu viel Aufmerksamkeit, genießen jeden Schluck, der ein Mäuseschluck ist, weil wir den verzückenden Moment in die Ewigkeit ausdehnen wollen. Drei, vier solcher Mäuseschlucke sind getan und schon – darüber die Zeit vergessend – ist auch dieser Kaffee kalt. Es gibt ein kleines Fenster der prächtigen Blüte: dort, wo das Aroma und die Trinktemparatur mit unserem eigentümlichen Durstgefühl korrelieren. Dann ist der Zenit erreicht. Was danach kommt, ist bekannt.
Ich habe mir vor kurzem in einem Moment der Ruhe mal die Oberflächenstruktur meiner Haut genauer angeschaut und bemerkt, dass sich etwas verändert hat im Vergleich zum letzten Mal, als ich das getan habe. Auch wenn es nur leicht zu sehen ist: die Haut verliert ihren inneren Zusammenhalt, wird mehr und mehr wie Pergament. Dann habe ich irgendwo anders gehört, dass mit Anfang Zwanzig mehr Zellen im Körper bereits beginnen, abzusterben, statt sich zu erneuern. Irreversibel. Der Zenit war hier also auch schon erreicht. Der aromatische Höhepunkt ist Vergangenheit.
Ich denke jetzt, dass meine Schilderungen vom abgekühlten Kaffee nicht ganz zutreffend waren. Als gäbe es dieses Getränk, was nur eine gewisse Zeit perfekt ist und dann plötzlich: unbrauchbar. Als gäbe es in der bräunlichen, wohlriechenden Flüssigkeit eine Forderung, die sagt: »Trink mich schnell, solange ich noch gut bin!« Viel eher wird es so sein, dass es der Prozess des Abkühlens selbst ist, der dem Getränk seinen Wert gibt. Will heißen: Der Kaffee für sich kennt keinen Zustand, sondern nur den Prozess. Der Zenit ist eine Idee und bei genauerem Hinsehen erweist er sich sogar als falsch. Insofern wir versuchen, ihn als einen Moment oder eine Phase in der stets fortschreitenden Zeit zu begreifen. Ein Schritt zurück und die fortschreitende Zeit selbst in den Blick genommen, tadaa!, der Kaffeegenuss erstreckt sich vom ersten gierigen Schluck, der fast die Zunge verbrennt, über die zahlreichen Schlucke des Genusses, bis hin zu den bitterlich-melancholischen letzten Zügen. Das ist es, was den Kaffee ausmacht! Das alles.
Wir sind es gewöhnt, Dinge als Zustände zu betrachten. Auch den Alterungsprozess der Haut können wir, von Tag zu Tag lebend, nur schwer als solchen erfassen. Was aber, wenn es das gar nicht gibt? Wenn der Alterungsprozess eben ein Prozess ist und ein Prozess immer und überall Leben? Wie schön ist es, dass die Haut sich verändert, eine neue Form annimmt, jeden Tag ganz unmerklich? Wie schön sind all’ die Phasen des Kaffeegenusses? Wie schön sind Werden und Vergehen, Geben und Nehmen und der Tanz und die Bewegung, die eine alternde Haut und ein erkaltender Kaffee sind?