Es gibt nicht viele von ihnen, aber es gibt sie: idealistische Heldenfiguren! Irgendwie süß, kindisch und zum Belächeln. Nicht wirklich heldenhaft im klassischen Sinn. Aber das ist ein Problem und wirklich schade! Und was ein noch viel größeres Problem darstellt: eine weibliche Idealistin ist nur als Wahnsinnige möglich. Wenn sie kein Kind ist …
Was ist eine idealistische Figur? Eine, die entgegen einer widerständigen Welt an ihren Idealen festhält und dabei keine Kompromisse eingeht. Sie sagt nicht »So und so steht es um die Dinge, daran muss ich meine Werte anpassen«, sondern »Trotzdem die Dinge so sind, werde ich nicht müde, an meinen Werten festzuhalten«. Ein wichtiger Unterschied zur klassischen Heldenfigur ist, dass die idealistische Figur ihre Werte nicht für andere gültig machen muss! Niemand muss überzeugt werden. Es ist bereits alles erreicht.
Beeindruckt hat mich zum Beispiel die von Roberto Benigni gespielte Figur Guido in »Das Leben ist schön«. Alleine schon der Filmtitel! Es geht um eine Deportation in ein nationalsozialistisches Konzentrationslager. Was für eine Widerstandskraft ist nötig, um in Anbetracht dieses Grauens weiterhin die Schönheit des Lebens zu sehen? Den äußeren Schrecken nicht in sich zu lassen. So bleibt auch Guido bis zum bitteren Ende eine phantasie- und humorvolle Figur. Durch und durch idealistisch. Aber er wirkt auch naiv und kindisch. Er funktioniert als Figur nur in Zusammenhang mit seinem Sohn. Er begibt sich auf seine Augenhöhe, wählt die Perspektive des Kindes, die geprägt ist von der Phantasie und dem Spiel. Alleine – ohne seinen Sohn – würde man seine humorvolle und spielerische Art wohl als deplatziert wahrnehmen. Wie schade!
Kindisch oder wahnsinnig muss derjenige sein, der gegen jeden äußeren Druck, gegen jeden neuen Gegenbeweis, an seiner Sicht der Dinge festhält: dass das Leben schön ist und die Welt gut. Wenn er sich wehrt und zu den Mitteln der Gewalt greift, wenn er anderen seine Sicht der Dinge aufzwängt, dann ist er zwar vielleicht sturköpfig und unsympathisch, aber kann als erwachsener Mann durchgehen und gilt auch nicht als wahnsinnig.
Der wehrlose Idealismus kommt in keiner anderen Figur besser zum Ausdruck als in dem von Mads Mikkelsen brillant gespielten Ivan in »Adams Äpfel«. Auch hier ist die Figur in indirekter Weise mit dem Nationalsozialismus konfrontiert. Vor allem aber mit direkter zwischenmenschlicher Gewalt seitens Adam. Schnell stellt sich heraus, dass auch alles andere um ihn herum nicht reibungslos verläuft. Er ist mit Gewalt, Schicksalsschlägen und moralischer Verwerflichkeit konfrontiert. Das unbedingte Festhalten am Guten wird zur schwarzen Komödie und Ivan zu einer dem Wahnsinn nahestehenden Figur. Jemand, der in seiner eigenen Welt lebt.
Während der Realist irgendwann – im Laufe seines Reifeprozesses und Erwachsenwerdens – resignativ eingestehen muss: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, beharrt der Idealist darauf, zu sagen: »Es gibt kein falsches Leben außerhalb des richtigen«! Dieses Beharren auf dem Guten, das noch nicht durch die Lebenserfahrung gekränkte und eingeschränkte Vertrauen, kommt deshalb auch eher bei jungen Menschen vor und wirkt bei Erwachsenen kindisch, wahnsinnig oder weiblich. »Ich mach’ mir die Welt Widdewidde wie sie mir gefällt«.
Zuletzt hat mich das ansteckende Lächeln von Monkey D. Ruffy (gespielt von dem zum Drehzeitpunkt erst 20-jährigen Iñaki Godoy) in der Netflix-Serie »One Piece« mitgerissen. Sein jugendlicher Leichtsinn ist das alleingültige Vertrauen in seine Selbstwirksamkeit. Für ihn ist es eine unumstößliche Wahrheit, dass er Piratenkönig werden und das One Piece (den größten Piratenschatz) finden wird. Seine Stärke ist seine Flexibilität. Das gilt auch auf psychologischer Ebene. Um trotz der Widrigkeiten des Lebens idealistisch zu bleiben, ist Resilienz nötig. Resilient ist nicht, wer hart ist und alles an sich abprallen lässt, sondern wer sich berühren und damit früher oder später auch verletzen lassen kann; um dann zur ursprünglichen Form zurückzukehren.
Idealismus ist Phantasie und Spiel entgegen der unverrückbaren Wirklichkeit. Der Glaube daran, dass nichts bereits gesetzt und alles möglich ist. Einer meiner liebsten Filmcharaktere überhaupt verdeutlicht dieses Prinzip auf urkomische Weise: Max Fischer aus Wes Andersons Frühwerk »Rushmore«. Seine Wirklichkeit sind grottige Schulnoten und die ständige Bedrohung, deshalb die Schule verlassen zu müssen. Die Schule ist für viele Idealisten sicher der erste Ort, an dem sie einer sorgfältigen Werteprüfung unterzogen werden. Noten sind ja schließlich die erste objektive, faktische und unverrückbare Mauer, an der sich so mancher Idealist den Kopf stößt. Nicht so Max Fischer. Der erfindet sich kurzerhand seine eigenen Institutionen: den Club der Bienenzüchter, den Französisch-Club, die Astronomie-Gesellschaft, den Fecht-Club, den Debattier-Club, den Club der Yankee Racer und einige mehr. Außerdem tob er sich am Theater als Regisseur aus. Übersprudelnder Erfindergeist und die Wahrnehmung der Welt nicht als starre Faktizität, sondern als Leinwand, die bemalt werden will!
Monkey D. Ruffy und Max Fischer funktionieren so gut, weil sie jung sind. Und sie werden eher als witzig, verschroben und kindlich wahrgenommen, denn als reif und ernstzunehmend. Wer als Erwachsener idealistisch bleibt, gerät in den Verdacht des Wahnsinns. Vor allem als Frau. In »Warten auf Bojangles« führt eine Familie ein ganz und gar idealistisches Leben, setzt bis zum bitteren Ende die Phantasie gegen die wirklichen, nicht so rosig aussehenden, Umstände ein. Sohn und Vater erkennen, wann es zu weit geht. Nur die Mutter, Camille, kann Wirklichkeit und Phantasie bald nicht mehr unterscheiden. Sie verfällt dem Wahn.
Eine erwachsene Frau, die sich ganz dem Spiel und der Phantasie hingibt, die sich nicht an die Männerwelt anpassen möchte, die sie vorfindet, muss wahnsinnig sein. Auch wenn es wieder einmal zunächst nicht danach aussieht, ist die idealistische Perspektive eine Machtübernahme! Eine Aneignung der Deutungshoheit über die Wirklichkeit. Vielleicht gibt es deswegen auch so gut wie keine idealistischen Frauenfiguren. Denn das würde ja bedeuten, dass eine Frau sich nicht in die gegebenen Umstände einfügt. Als Mann darf man noch idealistisch sein, aber erfährt dann zugleich eine gesellschaftliche Entmachtung. Man ist dann nicht ganz Mann, sondern irgendwie kindisch, leicht wahnsinnig und effeminiert (verweiblicht).
Ein weiterer unbeugsamer Idealist ist Ed Wood (gespielt von Johnny Depp) im gleichnamigen Film von Tim Burton. Sein Umfeld und später auch die Mehrheit der Menschen sind sich einig: Ed Wood hat kein Talent als Filmemacher. Aber er liebt es, Filme zu machen. Deshalb lässt er sich auch nicht davon abbringen. Mit mehr Scham verbunden ist seine weitere Leidenschaft: Frauenklamotten zu tragen. Er liebt den Stoff und den Schnitt. Er fühlt sich gut darin. Warum ihn also davon abbringen? Warum ihn daran hindern, Filme zu machen? Mir fällt wirklich kein rationaler Grund ein. Interessant ist auch dass Edward Davis Woods Filme (der realen Person, auf der die Ed Wood-Figur basiert) bis heute aufgrund ihrer trashigen Machart begeistern. Und selbst wenn das nicht so wäre und die Geschichte anders verlaufen, fiele mir kein Grund ein, warum Ed Wood keine Filme machen und keine Frauenklamotten tragen sollte.
Der Idealist beharrt auf seiner eigenen Weltsicht und respektiert gleichzeitig die Weltsicht anderer. Der Realist erklärt seine Sicht der Dinge für allgemeingültig. Letzteres ist ein patriarchales Überbleibsel, das hoffentlich bald ausgedient hat. Dann gibt es bestimmt auch mehr Idealisten, phantasievolle Frauen gelten nicht sofort als Wahnsinnige und die Widerstandskraft, die darin steckt, trotz der Umstände das Schöne zu sehen, wird als die Stärke anerkannt, die sie ist.
»Komm Kind, komm Frau, komm Phantast und Wahnsinniger, Papa zeigt euch, wie die Welt beschaffen ist.« – Nein, danke, die gefällt mir nicht. Die mach’ ich mir lieber selbst!