A_room_full_of_things

Haustier

Sie ist wohl das, was man eine »Red Flag« nennt. Schon lange war ihr klar, dass, sobald sie berührbar wurde, die Geschichte einen eigenartigen Verlauf nahm. Wobei »eigenartig« viel zu harmlos klingt für die abstrusen Wege, die sich ihre aufbrausenden Gefühle suchten, sobald sie entfesselt wurden. Deshalb hielt sie es, ab einem gewissen Zeitpunkt, für besser, sich zurückzuziehen. Was ganz wörtlich zu verstehen ist. Ihre Wohnung wurde zu einer Burg. Ihre eigenen vier Wände zu einem undurchdringlichen Wall.

Mir fällt es schwer, etwas Sinnvolles über sie zu erzählen. Die Geschichte beginnt ja immer beim Verlassen der Türschwelle. So ist es aber bei ihr so, dass das Verlassen der Türschwelle ein undurchdringbares Dickicht an Wörtern durch den Raum schleudert, eine Flut von Ereignissen, hier noch Flug und schwereloser Fall in Zutraulichkeit, da schon glühender Sturz in Verwüstung und Verwahrlosung. Mehr Magma als alles andere, blubbernd, zischend, sprühend, fließend. Will ich aber von ihrer Burg erzählen, so gibt es nichts zu erzählen. Darin ist ja alles bewegungs- und zeitlos. Nicht einmal die Uhr an der Wand bemüht sich noch darum, zu ticken. Ihre Zeiger sind betäubt. Die »Red Flag« ist auf Eis gestellt.

Ich könnte natürlich in die Details gehen. Davon erzählen, dass sich ihre Augen, wenn sie Zuneigung empfindet, katzenhaft zu einem Schlitz verengen, weil sie ihrem eigenen Gefühl gegenüber skeptisch eingestellt ist. – Mittlerweile. Zu oft schon hatte dieses Gefühl der Zuneigung ja gleichsam ihre Verwundbarkeit auf den Plan gerufen. Eigentlich eine schöne Sache. Ein Herz, das sich öffnet. Das hündisch hüpft und tobt und kaum zu halten ist vor heißer Hingabe. Aber auch das Einfallstor für schlechte Absichten. Und die Welt ist voll von schlechten Absichten, Leckerlis und Leinen.

Oder ich könnte von ihrem eigentümlichen Rhythmus erzählen. Überhaupt ist ja jeder Mensch seine eigene Melodie und der Körper das Instrument eines einzigartigen Lieds. Aber auch das ist schwer zu erzählen. Leichter wäre es noch, darüber zu summen. Ihr Lied jedenfalls ist ein eigenartiger Genremix, wo sphärische, elegante Synthesizer-Sounds mit zarten balladischen Passagen wechseln, die von unkalkulierbaren Ausbrüchen durchstoßen werden. Vielleicht ein bisschen wie ein Pixies-Lied, nur elektronischer.

Ich könnte auch davon erzählen, wie sich in ihre Gestik immer wieder etwas Königlich-majestätisches unterschiebt, wobei das Kinn leicht gehoben eine Unantastbarkeit kommuniziert. Eine Geste des Stolzes, trotz aller Beschämung, trotz aller Verwundbarkeit.

Aber so sehr ich mich auch bemühe, von ihr zu erzählen, so zerfließt mein Ansatz wie Sand zwischen den Fingern. Irgendwo zwischen Feuer und Eis würde ich sie zu greifen bekommen. Irgendwo an der Türschwelle, wo es losgeht. Wo noch die ersten Schritte und Begegnungen nachvollziehbar und nacherzählbar wären. Vielleicht ein freundliches »Hallo« zum Nachbarn. Eine herzliche Geste der strahlenden Sonne gegenüber. Mit blinzelnden Augen. Die Heldenreise könnte hier beginnen. Und doch eröffnet schon der nächste Schritt ein Reich, in dem die Worte wahllos um meinen Kopf schwirren. Ein Reich, in dem Feuer und Asche regieren. Hier ist Sprache nicht mehr dazu da, etwas verständlich zu machen, sondern sein Gegenteil oder sogar etwas ganz anderes zu bezwecken. Und wo ich ihr mittlerweile sprachlos hinterherhasten würde, wäre sie schon längst vollständig von der Umgebung assimiliert und ein Teil von mindestens fünf anderen Geschichten geworden. Geschichten, die auch von anderen Erzählern erzählt würden …