Vielleicht erinnerst du dich noch? An die Zeit, wo du in der Dunkelheit unter deinem Bett oder in deinem Schrank böse Gestalten befürchtet hast? Wo der Spaziergang durch den Wald in der Dämmerung überall auch Geistwesen und Dämonen erahnen ließ? Und wo die Konturen in der Finsternis urplötzlich erschreckend lebendig werden konnten? Vielleicht fühlte sich das für dich auch weniger wie eine überbordende irrationale Angst an als vielmehr wie eine ganz natürliche Möglichkeit. Irgendwann dann aber – sobald du oft genug das Licht angeschaltet und oft genug auch die Erklärung der Erwachsenen gehört hast, dass die Gestalten, die du dir wahnhaft erträumst, nicht existieren – hast du verinnerlicht, trennscharf zwischen Wirklichkeit und Fantasie zu unterscheiden, zwischen »natürlich« und »übernatürlich«. Wobei Letzteres eher was für Tagträumer, Romanautoren oder verschrobene Exzentriker ist. Die Wirklichkeit ist das, worin die klugen großen Erwachsenen beheimatet sind.
Was aber, wenn das nicht der natürliche Lauf der Dinge, sondern nur eine kulturspezifische Sichtweise ist? Will heißen: Könnte es sein, dass die Unterscheidung zwischen »natürlich« und »übernatürlich« ein spezifisch westliches und modernes Unterfangen ist? Keine allgemeingültige Erkenntnis des Erwachsenwerdens? Ja, könnte es. Der vor zwei Jahren verstorbene Mashall Sahlins, ein angesehener US-amerikanischer Anthropologe, behauptete sogar, dass der Großteil der Weltbevölkerung jene Unterscheidung nicht trifft und diverse Mächte und Geistwesen als vollkommen zum Alltag zugehörig erlebt. Und lässt man sich mal auf den Perspektivwechsel ein, so wäre unser Universum durch und durch verwunschen.
»In einem verwunschenen Universum ist die Unterscheidung zwischen ›natürlich‹ und ›übernatürlich‹ ohne Bedeutung.«
Mashall Sahlins – Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. S. 55.
Ein verwunschenes Universum
Mit seiner letzten zu Lebzeiten fertiggestellten Monografie »Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums« (im US-amerikanischen Original: The New Science of the Enchanted Universe) gibt Marshall Sahlins ein starkes Plädoyer für eine emphatische und intelligente Perspektivübernahme ab. Nachdrücklich pocht er darauf, dass die westliche Wissenschaft zu eingeschränkt über fremde Kulturen forscht und denkt. Sein Paradebeispiel ist die Verwendung des Wortes »Glauben«. Immer wieder sei die Sprache davon, dass die Menschen in den beforschten Kulturen »glauben«, dass es beispielsweise Geistwesen gibt. Damit sei zugleich auch klargestellt, was eigentlich die Wahrheit und Wirklichkeit ist und dass diese Menschen sich etwas »zurechtspinnen«: Es ist ja nicht so, aber die glauben daran. »Wir brauchen«, so folgert Sahlins, »eine umfangreiche Korrektur ethnografischer Begriffe. ›Glauben‹ gehört zu den Wichtigsten von ihnen.« (Ebd. S. 24)
Dieses Plädoyer ist großartig und neben den detaillierten Beschreibungen der beforschten Kulturen die Stärke des Buches! Wir sind so sehr gewöhnt an unsere Wahrnehmung der Welt, dass wir sie kaum noch hinterfragen. Ja, beinahe haben wir es uns darin gemütlich gemacht. Sahlins zeigt, wie überheblich das sein kann. Und auch, wenn es eine gewisse Gemütlichkeit und Sicherheit mit sich bringt, die beruhigende Erwachsenenstimme verinnerlicht zu haben, dass da keine Geistwesen unterm Bett sind, so kann es schnell auch farblos und sterbenslangweilig werden, in einem gänzlich berechenbaren Universum zu leben, in dem die unerklärlichen Mächte des Lebens nur noch in Netflix-Serien und Romanen ihren Auftritt haben dürfen.
Dabei könnte die Annahme, dass wir die treibenden Kräfte dieser Welt restlos in Formeln und Ursache-Wirkung-Schemata auflösen können, komplett vermessen sein. Und somit wären wir modernen westlich geprägten Menschen es, die blind durch die Welt laufen, überheblich meinend, dass wir verstünden, warum passiert, was passiert. Wobei doch eigentlich die großen Fragen ungeklärt bleiben:
»Die Menschen sind nicht die Regisseure ihres eigenen Lebens und Todes, nicht die Kräfte hinter ihrer Fortpflanzung, ihrem Wachstum und Niedergang, ihrer Krankheit und ihrer Gesundheit, und auch nicht die Kräfte hinter den Pflanzen und Tieren, von denen sie Leben, oder hinter der Witterung, von der ihr Wohlergehen abhängt.«
Marshall Sahlins – Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. S. 25.
Sahlins spricht von »immanentistischen Kulturen«, um solche Kulturen zu beschreiben, die in irgendeiner Form in einem von Geistwesen bevölkerten Universum leben. Die Götter und Geister leben dabei nicht irgendwo ganz woanders, sondern sind in direkter Weise an gewöhnlichen und außergewöhnlichen Ereignissen des Lebens beteiligt. Sie sind die Kräfte hinter dem, was passiert. Wenn zum Beispiel ein Kind gezeugt wird, ist klar, dass das von der Entscheidung eines Mannes und einer Frau abhing, die miteinander schliefen. Und man könnte diesen Vorgang auch – wie romantisch – auf Hormone, Samenerguss, Eizelle und so weiter herunterbrechen, aber alle Mechanismen dieser Wirkkette im Detail erklärt, würde immer noch nicht erklären, warum passiert, was passiert; welche Kraft es veranlasst, dass die Wirkkette selbst in Bewegung ist.
Angst und Lebendigkeit!
Es sei ein Trugschluss unserer religiös geprägten Kultur, so Sahlins, zu glauben, die Geister stünden außerhalb oder oberhalb der alltäglichen Dinge. Sie sind vielmehr in allen Abläufen des alltäglichen Lebens. Dadurch wird das Universum voll von subjektiven Kräften, Wesen oder Personen.
»In den physischen Körpern der Dinge […] wohnt etwas, das mehr oder weniger das gleiche subjektive Vermögen hat wie eine menschliche Person.«
Marshall Sahlins – Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. S. 107.
Ich glaube, es ist nicht deshalb so schwer, diese Perspektive einzunehmen, weil wir so unglaublich klug sind und uns naiv und dumm stellen müssten, um fremde Kräfte in den Dingen zu sehen, sondern weil jene anfangs erwähnte Kinderangst erneut in uns aufbrechen würde, die wir doch aus guten Gründen ins Verließ unserer eingemauerten Gefühle verbannt haben. Demnach könnte ein übermäßiger Hang zu Rationalität und Wissenschaft auch einfach nur ein Kontrollzwang sein. Ein solcher, der geboren ist aus der Angst vor dem Unkontrollierbaren und letztlich dem Tod. Weil wir alle im Grunde immer noch verängstigte Kinder sind.
Wie Sahlins denke ich, dass die Perspektivübernahme ungemein bereichernd sein kann. Das wird nicht dazu führen, dass ich morgen aufstehe und alle Handlungen des Tages an Geistwesen und Götter mit Namen knüpfe. Dafür ist meine Wahrnehmung schon viel zu sehr von der Kultur geprägt, in der ich aufgewachsen bin. Und die hat ja auch viele positive Aspekte. Wie beruhigend war der Tag, an dem ich nicht mehr über die Bettkante hüpfen musste, weil ich darunter ein unheilbringendes Wesen befürchtete … Aber das Verständnis der »immanentistischen Kulturen« kann in vielerlei Hinsicht aufrüttelnd sein: Wie groß und lebendig kann meine kleine Welt werden, wenn ich die Kinderangst ein Stück weit wieder reinlasse? Wenn ich um mich herum das Unkontrollierbare als solches akzeptiere? Wenn ich nicht überall totes Material sehe, das nur dazu da ist, um von mir gebraucht oder besessen zu werden?
Angst und das Gefühl, lebendig zu sein, hängen – so glaube ich – direkt miteinander zusammen. Und unsere schlechten Seiten kommen immer dann zum Vorschein, wenn wir lebendig sein wollen, ohne dafür auch ein wenig Angst in Kauf zu nehmen. Deshalb ist meine ganz persönliche Lesart von Marshall Sahlins wunderbar anregendem Buch die eines Aufrufs dazu, den Mut aufzubringen, ängstlich zu sein!
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums
Matthes & Seitz, Berlin 2023
271 S., geb., 28,–€