Zug Metronom Nebel
© Björn Höller

Das Zugausfallgefühl

Ich liebe das Gefühl, wenn der Zug ausfällt. Überhaupt, wenn die gut geschmierte Gesellschaftsmaschinerie mal wieder ins Stocken gerät.

Was passiert dann? Wir verpassen einen Termin, vielleicht wird auch die Chefin wütend oder unsere Verlässlichkeit könnte in Frage gestellt werden. Meistens sind die Folgen gar nicht so dramatisch. Aber das erste Gefühl, das eintritt, wenn der Zugausfall bestätigt ist, ist entlarvend! »Oh nein, wie schlimm! Wie unbequem! Ich habe doch einen ganz anderen Ablauf vorausberechnet. Was mache ich jetzt, wohin mit mir?«

Der Zugausfall ist kein Unglück, sondern gemahnt an die eigentliche Unverfügbarkeit von Gewissheit. Was dann hervorbricht – wenn auch nur im Kleinen – ist die Wirklichkeit! Keine sozialen Übereinkünfte, Vorstellungen der Zukunft oder andere Bilder im Kopf, sondern ein Stück Wirklichkeit. Es ist nur die Angst davor, wir könnten wirklich einmal von dieser und in dieser Wirklichkeit berührt werden, weshalb wir solche Ereignisse wie den Zugausfall als Verfehlung oder als Scheitern bezeichnen. Als ein Missgeschick: wie falsch! Und alle guten Dinge passieren in der Wirklichkeit. Alle magischen Dinge!

Ich liebe den Zugausfall, weil ich mich dann selbst wieder einmal dabei ertappen kann, wie gemütlich ich es mir in der wohligen Vorstellung einer vorausgeahnten Zukunft eingerichtet habe. Die dann so nicht eintritt. Hammer! Zurechtgewiesen von der Wirklichkeit, eingeholt vom Chaos. Und dann vielleicht überrascht von einer ungeahnten Begegnung. Oder verzaubert von Ereignissen, die ungesehen geblieben wären, wäre der Zug gekommen. Das ist doch wundervoll!

Wer jetzt denkt »Mir ist noch nie etwas wundervolles passiert, wenn mein Zug ausgefallen ist«, dem muss ich eine kalenderspruchartige Sentenz entgegenhalten: Dann hast du vielleicht nicht richtig hingesehen! Ein zauberhaftes Ereignis ist nicht irgendein bestimmtes Ereignis wie ein Sechser im Lotto oder ein stürmisches Verlieben. Jeder kann für sich entscheiden, was davon zauberhafter wäre. Beides ist aber wieder eine konkrete Erwartung, ein Bild im Kopf, das die Wirklichkeit überlagert.

Ich finde es unendlich schwer, solche Vorstellungen und Vorausahnungen loszulassen (wobei ich mich ganz klar für das Verlieben entscheiden würde, statt für den Sechser im Lotto), aber der Zugausfall erinnert mich an deren illusorischen Charakter. Ich darf straucheln. Meistens fange ich mich dann schnell wieder, überlege mir eine alternative Lösung und setze mich irgendwohin, wo es warm und gemütlich ist. Mehr und mehr lerne ich aber auch, das Zugausfallgefühl auszukosten. Nicht so schnell wegzulaufen.

Das betrifft auch alle anderen Ausfälle und Fehler, die mit gesellschaftlichen Sanktionen versehen werden. Alle drehen durch, wenn was schief läuft. Und es gibt tausend Gründe dafür. Meistens ist Geld der Grund: die symbolgewordene Sicherheit. Aber meistens ist auch nicht wirklich etwas Schlimmes passiert. Außer, dass alle durchdrehen. Die Kette des Durchdrehens. Es ist fast unmöglich, diese Kette zu durchbrechen. Aber ich denke, es könnte zur Möglichkeit werden, wenn sich die Mehrheit ihrer Glieder mit dem Zugausfallgefühl anzufreunden beginnen würde. Deswegen liebe ich es, wenn der Zug ausfällt!