Nietzsche Aufgeklärt
© Björn Höller

Aufklären

»Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns zu interessieren. Nimm dich also in Acht, daß du dir nicht selber zu aufgeklärt wirst!«

Friedrich Nietzsche: Nachlaß 1882–1884. In: Kritische Studienausgabe. Bd. 10. S. 58.

Ein knapper Ratschlag Nietzsches, der ganz unscheinbar in den Nachgelassenen Fragmenten, zwischen all’ den anderen Buchstaben, versteckt liegt. Wenn auch schwierig zu befolgen. Wie will man sich bewusst und willentlich selbst verkomplizieren, ohne sich dabei auch gleich wieder zu ertappen? Und doch ist darin eine Beobachtung enthalten, die niederschmetternd sein kann.

Versteckspiel

Es bereitet Lust, etwas kennenzulernen, aufzudecken, zu bereisen, zu entschlüsseln, anzuschauen, zu entblättern, einzunehmen, aufzunehmen, zu enträtseln, zu finden, wiederzufinden, aufzuklären … Das Versteckspiel ist hierfür nicht bloß die Analogie. Es scheint, als stehen wir allzu oft noch an der Wand mit vorgehaltenen Händen und zählen runter, während in uns schon die Lust zum Finden lauter wird. Oder wir hocken erwartungsvoll noch im Schutze unseres besten Verstecks, während der Suchende – vielleicht in Wirklichkeit noch weit weg – in uns kribbelig nah sich anfühlt. Was wohl der nächste Instagram-Post bereithält? Ach komm, ein bisschen scrolle ich noch weiter. Lasst uns das Licht ausschalten und Sieben Minuten im Himmel spielen. Wieder ein neuer Stern entdeckt! Wieder eine neue Formel aufgestellt! Der Patient legt die Fährte, der Arzt geht auf die Suche. Versteck dich, ich zähle runter. Mach’ die Lunge leer, ich fülle sie wieder auf. Ich bin dir auf der Spur!

Was passiert, wenn wir überall das Licht anschalten? Den Knoten entwirren? Das Rätsel enträtseln? Bewegt sich dann überhaupt noch etwas? Manch eine wartet ewig schon auf den Suchenden. Wartet und wartet, in schmerzvoller Sehnsucht. Aber das ist ihr Leben. Ihre lebendige Kraft schöpft eben aus dieser ihrer Identität als Wartende. Als eine Unbenennbare, die in Wirklichkeit nie benannt werden will. Und ein anderer sucht und sucht immerfort, und seine uneingestandene verborgenste Hoffnung ist es, niemals wirklich zu finden. Und wieder ein anderer mischt die Karten in sich selbst und legt sie verdeckt vor sich aus. Niemand will das Licht anmachen. Also nicht wirklich.

»Nimm dich also in Acht, daß du dir nicht selber zu aufgeklärt wirst!«

Sucht

Vor zwei Monaten habe ich entschieden, meine Energy-Drink-Sucht fallen zu lassen. Seit meiner Jugend habe ich mit dem viel zu süßen Wachmacher Verstecken gespielt, immer wieder gerne dem Auf und Ab des Wellenschlags von Müdigkeit und Wachheit in mir gelauscht, eine unabschließbare Suche hervorgebracht, die einem oralfixierten Interesse kontinuierlich Stoff bieten konnte. Es war ein Spiel. Und eine Suche. Ein Hund, der seinem eigenen Schwanz nachjagt. Ein vermeintliches Perpetuum Mobile, das bloß die Götze der Büchse als Antrieb braucht.

Man kann so viele Spiele spielen. In so vielen Ecken dieser Welt das Licht ausschalten, um in kribbeliger Vorfreude tastend auf die Suche gehen. Man kann die Spiele beenden und die Abwehr fallen lassen, die Täuschung aufklären oder ent-täuschen. Dann spielt man woanders das nächste Spiel. Niemand will wirklich das Licht anmachen. Selbst im Schmerz und in der Läuterung ist noch eine Lust als Katz-und-Maus-Spiel enthalten. Dann mache ich jetzt eben eine Geschichte daraus, dass ich ein »Kämpfer« gegen die Sucht bin? Dass ich mich selbst neu erkannt habe, eine Weiche umgelegt und meinem Weg ein neues Vorzeichen vorangestellt habe? Dann zehre ich eben vom Verlust, vom Mangel. Auf welche Art auch immer. Es gibt unendlich viele Spielvarianten.

»Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, ›metaphysischer‹ als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: die Lust ist ursprünglicher als der Schmerz; der letztere ist selbst nur die Folge eines Willens zur Lust […] und, in der höchsten Form, eine Art der Lust …«

Friedrich Nietzsche: Nachlaß 1887–1889. In: Kritische Studienausgabe. Bd. 13. S. 226.

Lichtschalter

Um Bewusstheit im Traum zu erlangen, gibt es mehrere Tricks. Einer davon ist es, darauf zu achten, was passiert, wenn man träumend einen Lichtschalter betätigt. In der Regel nichts. Das Licht bleibt einfach an. Ich glaube, die Ohnmacht dieser Szene ist die aufgeklärte Wirklichkeit, von der wir nichts wissen wollen. Vor der uns Nietzsche warnt, uns in Acht zu nehmen. Von der aus betrachtet es nämlich keinen Unterschied macht, ob ich Energy-Drinks trinke oder nicht. Ich kann es auch sein lassen und dafür anfangen, zu stricken. Mir Garn kaufen, das bis zum Mond reicht. Oder mich in bodenlosen Augen verlieren. Hauptsache nicht auf den indifferenten Grund stoßen, wo die Lichtschalter wirkungslos sind. Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass …

»Nimm dich also in Acht, daß du dir nicht selber zu aufgeklärt wirst!«

Zum Nachlesen: Nachlass: Sommer-Herbst 1882 3 [1-6]

Zitiert aus:
Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München 1999.