Sollte man Ziele haben? – Um die Vergangenheit zu bewältigen, wo Wunden zu Narben werden, ist es heilsam, das Geschehene zu einer erzählbaren Geschichte zu machen. So kann man sich selbst verstehen und sich mitteilen. Wie steht es um die Zukunft? Ist es ratsam, sich mit Kompass und Karte auf den Weg zu machen? Wobei die Wolken am Himmel und die Blüten auf der Weide nur so vorüberziehen, während der Kopf in Karten und Kompassnadel versenkt ist? Ist es nicht auch so, dass jedes Ziel, sobald es erreicht ist, sogleich wieder verpufft. Oder mit den deprimierenden Worten eines noch deprimierenderen Philosophen:
»Jedenfalls aber kommt, nach einiger Zeit die Erfahrung und bringt die Einsicht, daß Glück und Genuß eine Fata Morgana sind, welche, nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet, wenn man herangekommen ist; daß hingegen Leiden und Schmerz Realität haben, sich selbst unmittelbar vertreten und keiner Illusion noch Erwartung bedürfen.«
Arthur Schopenhauer
Es ist bekannt, dass Spitzensportler immer wieder depressive Episoden erleiden, nachdem sie das höchste ihrer Ziele, die Goldmedaille, erreicht haben. Man ist ja doch immer noch derselbe. Die Rolex am Handgelenk, aber der Seelenschmerz noch in der Brust. Den Ferrari unterm Arsch, aber die Sehnsucht noch grenzenlos. Die Goldmedaille in der Hand, aber immer noch leer und durstig nach mehr.
Warum also überhaupt Ziele setzen? Wo doch alles, früher oder später, dem Zerfall anheimfällt, jedes Bauwerk in sich zusammenfällt? »Alles, was entsteht«, sagt Mephisto, »ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.« Wäre es besser? Sich lieber in die Sauna setzen oder auf die Wiese legen und Wolken beobachten. Der Weg ist bekanntlich das Ziel. Warum sich also abmühen?
Ist die Zielsetzung nicht auch die wirksame Hypnose des Kapitals gegenüber seinen Produktivkräften? »Supertalent«, »The Voice« oder »GNTM« vermitteln den Eindruck, weiter zu streben, zu träumen und letztlich weiter einzuschalten oder zu kaufen. Irgendwann, in ferner Zukunft, vielleicht? Oder zumindest im Traum? – Aber auch die umgekehrte Pädagogik ist nicht minder problematisch: »Lerne, dich selbst einzuschätzen. Welche Ziele sind für dich wirklich im Bereich des Möglichen? Vielleicht bist du eher ein Käsetoast als ein Drei-Sterne-Gericht?« Solche gutgemeinten Aussagen sind in vielerlei Hinsicht essentialistisch und eine Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse. Jeder hat seinen Platz im Kastensystem der Gesellschaft und eine Katze wird niemals ein Tiger sein.
Es lässt sich wohl festhalten, dass Ziele ein heikles Unterfangen sein können. Sie können frustrieren. Auf welche Art auch immer. Und doch, denke ich, gibt es Ziele oder Träume, die gut sind. Meistens sind das solche, deren Erfüllung man weitestgehend selbst in der Hand hat. So traurig das, gesellschaftskritisch betrachtet, auch sein mag. Traurig, weil sich der Bereich der erreichbaren Ziele korrelativ zu den Privilegien verhält, die einem mitgegeben sind. So sollte sich jemand mit Migrationshintergrund eher das Ziel setzen, überhaupt eine Wohnung zu finden als eine, in der er sich wohl fühlen könnte? Wer seine Ziele immer wieder dorthin setzt, wo der Weg versperrt ist, wird andauernd enttäuscht. Wäre diese andauernde Enttäuschung dann nicht aber auch eine zumindest emotionale Rebellion gegen ungerechte Verhältnisse?
Leichter ist es, seine Ansprüche vom Großen abzuziehen und sich eine kleine Suchtinsel zu suchen. Den Wellenschlag von Frust und Erfüllung in einen überschaubaren sich wiederholenden Zirkel zu verlagern. Ich will die nächste Kippe, ich kriege die nächste Kippe. Oder gesünder und mit mehr Disziplin: Ich will 5kg Muskelmasse zulegen, ich kriege 5kg Muskelmasse. Der Zusammenhang zwischen Armut und Sucht ist bekannt. Es ist einfacher, die Suchtinsel zu betreten als einen unentwegten Frustkrieg gegen die Verhältnisse zu führen. Würde man einmal die Suchtmittel für einen Tag entfernen, so wäre vermutlich schon gegen frühen Mittag die Revolution nicht fern.
Was auch gut funktioniert, ist der Glaube: in eine utopische Zukunft, in einen Gott, in den Lottogewinn oder einen allversorgenden Engel. Egal, jede Form von strahlender Rettungsfantasie kann – wird sie auch nie eintreten – das Frustgefühl mindern. Es sieht schlecht um die Zielsetzung aus. Vieles spricht dafür, auf Mephisto und Schopenhauer zu hören. Aber nicht alles! Es gibt Ziele, die gut sind. Ureigene Ziele, die weder ein Suchtmittel, noch eine unerreichbare Utopie, noch ein Gott sind, sondern das Persönlichste des Persönlichen: das, was ich wirklich will. Solche Ziele können vollkommen lächerlich sein. Und ob deren Verfolgen und Erreichen letztlich glücklich macht, steht in den Sternen.
Ich glaube auch, dass solche Ziele äußerst fragil und schützenswert sind. Dass, sobald man sie für sich herausgefunden und gesetzt hat, von allen Seiten her die Prüfung und der Zweifel sich heranschleicht. Mephisto flüstert ins Ohr: »Lass es! Es ist vergebens.« Vielleicht ist das Ziel innerhalb des sozialen Referenzrahmens absurd? Aber die Aufgabe, die das gesetzte Ziel bedeutet, ist unteilbar und urpersönlich. Es ist ein Ziel, das verteidigt werden will. Gegen den Vergleich, gegen das Urteil, gegen die Norm.
Solche Ziele bringen Entscheidungen mit sich, die vielleicht niemand verstehen wird. Vielleicht nicht einmal man selbst. Es sind Ziele, die etwas Widerspenstiges hervorholen. Gegen Erwartungen und vielleicht auch wider den guten Geschmack. Vielleicht verlangt so ein Ziel sogar erst einmal stehen zu bleiben statt zu rennen.