In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine Hauptschule, eine Realschule und ein Gymnasium. In den Bussen sind alle SchülerInnen zusammen gefahren. Die Bushaltestelle lag am Fuße eines Hügels. Die Hauptschule direkt daneben, gewissermaßen im Tal. Die Realschule nicht weit davon entfernt. Das Gymnasium oben auf dem Hügel. Wer auf das Gymnasium gehen durfte, hat jeden morgen den Weg an Haupt- und Realschule vorbei zur Anhöhe seiner exklusiven Bildungseinrichtung genommen. Es war sofort zu erkennen, wer unten bleibt und wer noch weitergeht.
Auf dem Gymnasium wurden Bücher wie »Effi Briest« aufgeschlagen. Eindringlich haben die SchülerInnen die erste Seite von Theodor Fontanes berühmten Roman exerziert. Den Ausspruch des Autors im Hinterkopf behaltend, dass am Anfang bereits alles enthalten sei. Davon war ich fasziniert. So wie die Geburt des Universums aus der unendlich verdichteten Materie eines schwarzen Lochs oder die gerade aus einem winzigen Samenkorn hochwachsenden Radieschen-Pflanzen in der Erde meines Hochbeets oder die Beziehung von Menschen, in deren erster Begegnung bereits die verschlüsselte Essenz ihrer fortbestehenden Verbindung enthalten scheint.
Auf der Haupt- und Realschule war, wie das Klischee will, das flottierende Leben. Die Geschichten darüber sind bis zur Anhöhe hochgeklettert. Eigentlich so gut wie immer. Unten war die Gefahr, die außerordentlichen Ereignisse, die Keimstätte von neuen Geschmäckern und Trends. Oben wurde das nachgeahmt, aber ausgedünnt, weniger intensiv, weniger mutig und auch wirklich weniger wahrhaftig. Einer dieser Trends war die »Nackenfotze«: ein Schlag auf den Nacken, mit flacher Hand. Umso lauter es klatschte, umso besser. Ich weiß noch, wie mir der Begriff »Fotze« als natürlicher neuer Begriff für das weibliche Geschlechtsorgan nahegelegt wurde. So habe ich ihn auch übernommen, bis mich meine erste Freundin darüber aufklärte. Dass um seinen semantischen Gehalt auch eine starke Pragmatik der Sittlichkeit herrscht, wusste ich nicht. Es war mir, jeden Tag den Berg hochgehend, nicht bewusst.
Viele Wörter habe ich sowieso nicht gekannt. Irgendwie fand ich immer Gefühle oder den Klang von Wörtern interessanter als deren sozial determinierten semantischen Gehalt. Und überhaupt kam es mir immer so vor, als würden zu viele Wörter eher die Wirklichkeit verschleiern als sie zu bezeichnen. Es gab zum Beispiel viele Sätze und Ausdrücke dafür, die erklärten, warum »Fotze« ein schlimmer Begriff ist. Es gab aber kaum Wörter dafür, die erklärten, dass Haupt- und Realschule und Gymnasium schlimme Begriffe sind. Dabei kommt mir die reale Auswirkung der Existenz der drei letzten Begriffe wesentlich wirkmächtiger vor als die des Ersten. Es werden ja sogar ganze Gebäude nach dem Schema dieser drei Begriffe gebaut, manche auf Anhöhen, manche im Tal. Dass ich das so sehe, liegt bestimmt auch daran, dass meine Mutter den ersten Begriff stets unverblümt und neutral verwendete, während ich sie selten die reale Aufteilung der drei Schulen begrifflich reproduzieren hörte.
»Was mir vor allen Dingen unbestreitbar vorkommt, ist die Tatsache, das ein solches Ausbleiben des Klassengefühls eine bürgerliche Kindheit kennzeichnet. Die Herrschenden merken nicht, dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht (so wie ein Weißer sich nicht seines Weißseins und ein Heterosexueller sich nicht seiner Heterosexualität bewusst ist).«
Didier Eribon
Diese Blindheit, die Didier Eribon anspricht, zeigt sich in meinem Fall oft schon darin, dass mir meine naive Unwissenheit bezüglich des diffamierenden Gehalts von »Fotze« nicht geglaubt wird: »Das kann doch nicht sein, dass du das nicht wusstest. Bist du denn hinter dem Mond aufgewachsen?«, – »Ja, irgendwie schon. Schön für dich, dass du hierauf bezogen in der hegemonialen Mitte aufwachsen durftest.«
Ironisch war es dann, dass mir gerade das, was mir immer am schleierhaftesten, nämlich Worte, vorgekommen ist, den Schulabschluss gerettet hat. So ziemlich das erste Mal in meinem Leben, dass ich angehört und wertgeschätzt wurde, war im Deutschunterricht. Meine Rechtschreibung und Grammatik sei grauenvoll. Da hätte ich mir wohl einfach mehr Mühe geben müssen? Aber was ich schrieb, sei irgendwie gut. So zumindest die Meinung der Deutschlehrerin, die in mir irgendein Potenzial erkannte. Aber schon damals waren die Worte und Sätze, die ich benutzt habe, aus Filmen übernommen. Worte und Sätze, die für mich eher durch ihren Klang als durch ihren Inhalt im Gedächtnis geblieben sind. So ermöglichten mir die zahlreichen Filme, die ich illegal gestreamt habe, zu dieser Zeit zumindest in einer Sache Anerkennung zu bekommen. Obwohl ich mir schon damals vorkam wie ein Trickbetrüger.
Umso mehr Wörter ich gelernt habe, umso mehr Anerkennung bekam ich. Umso mehr Wörter ich gelernt habe, umso mehr kam ich mir aber auch vor wie ein Schauspieler. Irgendwie schien die Distanz zwischen Impuls, Affekt und Gefühlsäußerung zu wachsen und zu wachsen, bis schließlich Impuls und Affekt fast in Vergessenheit gerieten. Nicht verwunderlich, dass auch eben jene Deutschlehrerin mich dazu bewegen wollte, in der Theater-AG mitzumachen. Zu dem Zeitpunkt war ja auch schon eine Sprachmaske um mich gewachsen, die meinen naiven Gefühlsausdruck mehr und mehr verfremdete und mich zum Schauspieler machte. Die Wörter und Sätze habe ich Filmen entnommen, nicht dem Leben. Eine knifflige Sache! Es war ja auch diese virtuelle Sprachaneignung, die mir Anerkennung zusicherte. Aber um welchen Preis?
Viele Soziologen und »Betroffene« berichten mittlerweile von der Anpassungsleistung in Habitus und Sprache, die der soziale Aufstieg notwendig macht. Und doch kommt es mir meist so vor als sei auch darin ein wertschätzendes auf die Schulter klopfen enthalten, statt ein Hinterfragen der zugrundeliegenden Bewertung. Gibt es wirklich Sprachformen, die hochwertiger sind als andere? Ich bin mir auch nicht sicher, ob die gravierende Auswirkung, der riesige Graben zwischen Gefühlsausdruck und sprachlicher Überformung, wirklich erfasst wurde. Die emotionale Konsequenz ist nämlich fatal und ruft immerfort folgende Weggabelung als Wahlfrage auf den Plan: das Gefühl von Lebendigkeit oder die soziale Anerkennung? – Der Graben zwischen »Fotze« und Theodor Fontane ist jedenfalls riesig.