Einmal einsteigen und dann den Sicherheitsgurt fest umschnallen, bitte! Jule Govrins »Universalimus von unten« ist ein wilde Achterbahnfahrt durch politische und ökonomische Theorie.
»Materialistisch-diskursanalytisch« nennt sie die Methode. Und der Wechsel zwischen Materie und Diskurs geschieht dabei in so einem rasantem Tempo, dass das nächste Schwindelgefühl beim Aufschlagen der Seiten garantiert ist. Einem wissenschaftlichen Suhrkamp Taschenbuch würdig! Ich erinnere mich noch an meine erste Begegnung mit Adornos Minima Moralia: was ein Ritt! Eine Verwirrung folgte auf die nächste, begleitet von Unbehagen und einem kaum auszubalancierenden Taumel. Vergleichbar mit meinem ersten Mal auf der Black Mamba im Freizeitpark Phantasialand. Von der Landschaft und Kulisse habe ich nicht viel sehen können, aber durchgerüttelt wurde ich unzweifelhaft!
Verwundbare Körper
Die an der Uni Hildesheim tätige Philosphin Jule Govrin bespricht auf fast 500 Seiten eine radikale Theorie der Gleichheit. Ja, wir seien per se schon gleich! Erst die Art und Weise, wie wir Politik verstehen und betreiben, die Art und Weise, wie wir wirtschaften und was wir über uns erzählen, macht uns ungleich. Das klingt natürlich gleich schon nach einer These, die in Verbindung mit Konzepten wie dem »Naturzustand« und Namen wie Hobbes und Rousseau gebracht werden will. Eine Linie, die Govrin in diskursanalytischer Manier auch zieht.
Von Hobbes’ übernimmt sie die Grundidee, dass wir Menschen unabdingbar voneinander abhängig seien. Denn jeder von uns sei, mag er oder sie noch so viel Besitz haben, verwundbar. Jeder sei aber auch, in Anlehnung an Hobbes, dazu befähigt, dem anderen zu schaden. Die erste Feststellung: Uns eint unsere Verwundbarkeit!
Nun sei, so Govrin, diese Verwundbarkeit, die jedem mitgegeben ist, die uns alle voneinander abhängig macht, als in einem sozialen Gefüge der Sorge und Unterstützung, strukturell ungleich verteilt. Sie spricht von »struktureller Verwundbarmachung«. Ausgehend von unseren Körpern teilen wir alle die gleiche Fragilität. Selbst die Gesündeste unter uns könnte morgen schon fundamental auf Hilfe angewiesen sein. Blendet man für einen kurzen Moment alle die Marktmechanismen, die Besitztümer, die Statussymbole und Machtbefugnisse (die ja historisch gewachsen sind) aus, gelangt man zu Körpern, die natürlicherweise alle gleichermaßen sterblich sind.
Ich musste hierbei an Game of Thrones denken! Ich erinnere mich viel zu schlecht an die Namen der Personen und Königshäuser, als dass ich detailgenau wiedergeben könnte, was mir einfiel. Aber ich erinnere mich wage daran, dass die zerstrittenen Königshäuser sich, für einen Moment jedenfalls, im gemeinsamen Kampf gegen die Armee der Toten zusammentaten. Die Lehre: Im Kampf gegen die Sterblichkeit sind wir geeint! Wir haben alle und sind alle verwundbare Körper.
Unverwundbare Körper
Nun gibt es aber ein kleines Problem. Eine kleine Verwirrung durch hunderte Jahre Kultur und Symbole, die die verwundbaren (nackten) Körper kaschieren. Schnell ist vergessen, dass ein Milliardär eigentlich ebenso verletzlich ist wie ein Fabrikarbeiter. Ein Eigentumsbesitzer ebenso wie der Geflüchtete mit nichts als seinen Klamotten am Leib. Es sind Diskurse entstanden, die den Milliardär als souveräne, starke alleinstehende Person auszeichnen, den Fabrikarbeiter als gesichtslosen Teil einer arbeitenden Masse. Und um die Diskurse herum wurden materielle Verhältnisse geschaffen, die tatsächlich dafür sorgen, dass manche Menschen verwundbarer gemacht werden als andere.
»[W]enn man die heutigen politische Reden über ›die Migranten‹ oder ›die Arbeitslosen‹ hört, wird deutlich, wie aktuell solche diskursiven Einteilungen in Einzelkörper und Massenkörper bleiben. Ob Menschen als starke Individuen oder Angehörige einer niedrigstehenden Gruppe ausgemacht werden, hängt stark davon ab, ob man sie als alleinstehend oder anteilslos ausmacht und ob man sie als ökonomische Subjekte oder zu disziplinierende Arbeitskraftreserve ansieht, was mit Attributierungen wie autonom oder abhängig, erfolgreich oder gescheitert einhergeht.«
Jule Govrin: Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit. Berlin 2025. S. 191
Es entsteht die Illusion unverwundbarer Körper. Oder auf die Spitze getrieben: entkörperlichter Individuen. Symbol gewordenes Fleisch. Kulturell überformte Natur. Eine solche Illusion funktioniert aber immer nur, wenn andere Körper ausgeschlossen werden.
»Symbolische Körperordnungen bauen darauf auf, andere Körper aus den Sphären der Macht auszugrenzen: Frauen, Arme, Kranke, Perverse, Andersgläubige.«
Ebd. S. 62
Solange (das jetzt meine persönliche Randnotiz) wir uns nicht mit unserer eigenen Verwundbarkeit, also auch Sterblichkeit, radikal konfrontieren, werden wir Wege der Verdrängung finden. Zum Beispiel die projektive Verdrängung, die anderen seien verwundbarer, kränker, ärmer, perverser, und so weiter. Govrins Hauptthese, auf die sie spiralförmig immer wieder zurückkommt: Wie sind alle verwundbar!
Körperwissen
Wie kann man dem nun aber entgegensteuern?
In graswurzelmäßiger Manier sieht Govrin das revolutionäre Potenzial ganz unten, im Alltag. Sie schlägt keine politische Großtheorien der strukturellen Umwälzung oder dergleichen vor, sondern setzt bei den fast unbewussten Details unserer Körper an. Mit Rückgriff auf den Soziologen Pierre Bourdieu weist sie auf die zähen Feinheiten ungleich machender symbolischer Körperordnungen hin. Schon die Art, zu sprechen, zu essen, zu gehen, zu stehen, zu lächeln und einen Raum zu betreten, kommunizieren subtile Codes, die den einen Körper als unverwundbarer oder schützenswerter auszeichnen als den anderen.
(Meine Mutter hatte hier einen bezeichnenden und anschaulichen Tipp: Viele öffentliche Räume, Behörden, akademische Kreise, kurzum die meisten Orte, die eine klare soziale Ordnung vorschreiben, statt ihre Ordnung in organischen Aushandlungsprozessen zu erzeugen, sind für die untere Klasse einschüchternd. Man fühlt sich fremd, minderwertig und es ist kein paranoides Gefühl hier Augen zu begegnen, die von oben herab schauen. Der Tipp meiner Mutter war, sich in solchen Situationen die »Anzugträger« oder diejenigen, die mit der gegebenen Ordnung friedvoll assimiliert sind, nackt (!) vorzustellen. Was wie ein lustiger Ratschlag daherkommen mag, bekommt vor Govrins Theorie radikaler Gleichheit eine neue Bedeutung. Warum ist es nicht nur lustig, sondern auch befreiend und emanzipativ, sich in Situationen fehlender Kontingenz, wo die symbolische Ordnung und damit auch die Herrschaftsverhältnisse scheinbar in Stein gemeißelt sind, der Nacktheit zu erinnern? Weil wir nackt alle gleichermaßen verwundbar, gleichermaßen hilfsbedürftig sind!)
Das großartige an Govrins Ansatz ist die theoretisch gesättigte Bestätigung einer zunächst kontraintuitiven Denkfigur: Es gehe nicht darum, den strukturell verwundbarer gemachten Menschen in den Olymp der Unverwundbaren hinauf zu »helfen«. Denn das geht immer auf Kosten einer Ausgrenzung. Es gehe vielmehr darum, das Wissen um die Verwundbarkeit in den Vordergrund zu bringen. Und zwar die Verwundbarkeit aller!
Wenn jemand die symbolische Ordnung eines Raums, also das, was dort als erwartbar gilt, stört, dann liegt darin das Potenzial einer Sichtbarmachung allumgreifender menschlicher Verwundbarkeit. Die Anrufung dieser scheinbaren Schwäche, die wir alle teilen, macht uns trotz unserer Differenz zu Gleichen. Die vereinten Königshäuser im Kampf gegen die Armee der Toten!
(Auch hierzu eine kleine Anekdote: Mein »Lieblingsdozent« in der Uni hatte sich gleich in der ersten Seminarstunde auf den Boden gelegt, um – weil ihm das Wort dafür nicht eingefallen war – einen Schneeengel in den fingierten Schnee zu machen. Leider hat er unter der Studierendenschaft wegen solcher Aktionen wohl an Seriosität eingebüßt. Vielleicht sind derart rigorose Brüche mit der Erwartung auch zu holzhammermäßig (wer will schon gerne daran erinnert werden, wie fragil wir alle eigentlich sind). Aber es ist zumindest eine konkrete Praxis zur Sichtbarmachung von Verwundbarkeit, das Unterlaufen der symbolischen Ordnung und der damit einhergehenden Ungleichmachung.)
Govrins Universalismus von Unten zeigt sich in alltäglichen solidarischen Praktiken, die sich gegen »strukturelle Verwundbarmachung wenden und ein Wissen universeller Verwundbarkeit hervorbringen.« (Ebd. S. 10) Es ist ein Wissen, das nur allzu schnell in Vergessenheit geraten will. Aber nichts ist wirklich vergessen.

Taumel
Govrins Buch ist, wie eingangs erwähnt, eine Achterbahnfahrt. Neben der kurz von mir dargestellten These der geteilten Verwundbarkeit und den daraus abgeleiteten Folgerungen ist ihr Buch voll von postkolonialer Theorie, ökonomischem Wissen und diskursanalytischem Feinsinn. Es gibt wahnsinnig interessante Beobachtungen über Schuld als Urform des Geldes und der Zwischenmenschlichkeit. Und doch zirkuliert ihre Argumentation immer wieder um ihre simple Kernthese herum, zeigt sie in neuen Facetten, lädt sie mit weiteren Geschichten auf. Kurve um Kurve, Looping um Looping.
Was ich mich letztlich gefragt habe: Wozu dieses Buch? Alles darin verweist immer wieder auf die Körperlichkeit und Mikrophysik des darin besprochenen Unterfangens: von unten. Und doch hatte ich beim Lesen dieses Buches, mehr als bei anderen Büchern, den Eindruck, irgendwann nur noch aus Kopf, Symbolen und Theorien zu bestehen. Ein Buch über Affekte und Körper, das selbst nicht affiziert. Schade! Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass es auf ein Wissen hinweist, dass im Alltag entsteht, nicht aber in massenhaft reproduziertem Theoriewissen. Und doch kann auch Theorie in Wallung versetzen, kann auch ein Suhrkamp-Buch in großer Auflage alltägliches Körperwissen spürbar machen. Hier bleibt in mir aber vor allem der Taumel.
Jule Govrin: Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit.
Suhrkamp, Berlin 2025
499 S., 28,–€
