»Ich glaube, dass der Versuch, etwas bis zum letzten zu ergründen, an der Ekstase-Erfahrung selbst oder an Berichten darüber vorbeigeht. Es gibt verschiedene Modelle, Ekstase zu erklären, medizinische, […], religiöse, kulturelle, aber nur gemeinsam, multiperspektivisch, kann man vielleicht so einen Eindruck davon bekommen, was das eigentlich ausmacht und warum es so wichtig ist […] und die Ekstase hat es nun mal so an sich, dass sie ihre Spuren verwischt, das heißt: wir können nur von außen oder aus der Retrospektive auf die Ekstase greifen und in dem Moment, wenn die Ekstase verschwindet, zwinkert sie vielleicht einem noch zu und verwischt ihre Spuren.«
Racha Kirakosian (bei Sternstunde Religion (SRF))
Die Geschichte der Verfolgung, Repression und Gefangennahme ekstatischer Frauen ist lang. Von der Hexenjagd über die Verbrennung von Jeanne d’Arc, die Behandlung der »Hysterie«, bis hin zu Rollenzuschreibungen und Wutkommentaren im Netz und zuletzt vielleicht das gegenwärtige Sich-hervortun maßregelnder autoritativ auftretender Bestimmer- und Macherfiguren, die sich gezwungen sehen, durchzugreifen. Woher kommt es, dass eine »wilde Frau« – viel mehr noch als jeder ungezügelte Mann – irgendwo in der Tiefe des Affektlebens den Drang auszulösen scheint, kontrollieren, zähmen, erklären, einhegen und in Besitz nehmen zu wollen? Nicht selten auch in der paradoxen Mischung mit Wutgefühlen.
Wut auf Marilyn Monroe
Geradezu erzürnt waren viele Kritiker bei Erscheinen des Biopics Blonde über Marylin Monroe. Vor allem sei es kaum auszuhalten gewesen, Norma Jeans (so Monroes bürgerlicher Name) Leben als so ein ganz und gar passives Martyrium zu sehen. Es erinnere an »Die Passion Christi«. Neben dieser sich als protektiv tarnenden Haltung der Kritiker gibt es im Netz zahlreiche wutentbrannte Kommentare gegen den Film und darüber hinaus bisweilen misogyne Beschäftigungen mit Monroes Emotionalität. Manch einer macht sich sogar die Arbeit und bastelt eine billige VFX-Explosion in den Film, um das Drama um Norma Jean – zumindest in der Fiktion – vorzeitig zu beenden.
Ich denke die Reaktionen auf den Film sind nicht bloß das Abkanzeln eines nur langatmigen, schwer zugänglichen Films. In der Empörung liegt ja nicht selten die Leugnung eigener Anteile verborgen, an die das empörende Medium gemahnt. Viel leichter anzuschauen wäre der Film doch, wenn Marylin als die glänzende Ikone porträtiert wäre, als die wir sie kennen. Oder, wie es die differenzierter auftretenden Kritiker forderten, auch ihre starken, berechnenden Seiten zur Geltung gekommen wären. Nun ist das aber nicht so. Marylins Leben wird als Leidensweg gezeigt, inkohärent, fragmentiert, ambivalent, begleitet von kurzen Phasen der Verzückung und Ekstase. Alles durch den Filter einer Ästhetik, die das weltliche Geschehen transzendiert. Passend dazu Nick Caves und Warren Ellis’ andachtsvolle Musik.
Warum nun aber macht der Film so viele Menschen so wütend? Nicht Mitleid ist die vorwiegende Reaktion, sondern Wut. Warum? Die Kritikerin Anke Leweke schreibt in der ZEIT, es fehle »ein visueller und erzählerischer Frei- oder Schutzraum für die Frau, die allen zu gehören schien und sich dadurch selbst abhandengekommen ist.« Was aber noch viel erstaunlicher ist: Warum richtet sich die Wut auf Monroes Passivität? Warum nicht auf die zahlreichen Männer, die sie aktiv ausgebeutet und vergewaltigt haben? Warum nicht auf eine Industrie und ein System, dass aktiv so etwas erlaubt und begünstigt. Natürlich ist das eine Täter-Opfer-Umkehr. Aber die Wut, so meine These, speist sich aus dem eigenen blinden Fleck gleichartiger absoluter Passivität, die wir bei Monroe erleben. Nicht umsonst ist die Ohnmacht auch mit der Hingabe verschwistert. Es ist eben jene Passivität, die auch der ekstatischen Verzückung zu eigen ist, amoralische Hingabe und bis zur Selbstauflösung gesteigerte Überantwortung der eigenen Kraft an eine höhere Kraft.
Die entfachte Wut beim Zusehen von Monroes unentrinnbarem Martyrium ist eine Reaktionsbildung: wie die Homophobie oft eine Reaktion auf eigene homoerotische Tendenzen zu sein scheint, ist die ungebremst entfachte Wut in Bezug auf den Monroe-Film möglicherweise die Abwehr der eigenen metaphysischen Ohnmacht. Da ist etwas, das in alle Ewigkeit dem Willen nicht zugänglich ist. Ein unentwirrbarer Knoten. Das Unkontrollierbare und Unverfügbare.
Man möchte die weinende Norma Jean aufwecken oder rütteln: setz dich zur Wehr! Steh für dich ein! Lass dich nicht so herumschupsen und herunterziehen. Führe dich, beherrsche dich! Und zur selben Zeit, während man rüttelt und schüttelt, ist man selbst schon zu Pontius Pilatus geworden, der den Leidensweg bekreuzigend zu Ende führt.
Dabei ist ja aber auch die Konfrontation mit dem blinden Fleck, also mit der absoluten Ohnmacht, die Geburtsstunde der Transzendenz. Andrew Dominik, der Regisseur von Blonde, hat das, so lässt die Inszenierung vermuten, verstanden. Nick Caves und Warren Ellis’ Musik verstärkt den Eindruck. Ein ästhetisch-transzendenter Schutzraum, den die Künstler wohl besser kennen als die Kritiker.
Vielleicht liegt es auch an eben jener Reaktionsbildung, dass »die wilde Frau«, ist sie keine »Madonna«, eine »Hure« sein muss. Die Ekstase als Exorzismus, den es auszutreiben gilt. Die Bezichtigung als Hexe und ihre Verfolgung. Eine Frau, die nicht zuallererst umsorgende Mutter ist, will nur ungerne gedacht werden. Die Legitimation des Wutgefühls.
Inbesitznahme der Bella Baxter
Ein anderer Film, der die Inbesitznahme einer unfügsamen Frau zum Thema hat, ist Poor Things von Giorgos Lanthimos. Nur hier sind wir nicht mit einer dauerweinenden Verdinglichung konfrontiert, sondern mit einer naiven freiheitlichen Rationalität. Hysterisch wird zuletzt Duncan Wedderburn, der sie mit allem, was ihm zur Verfügung steht, versucht, an sich zu binden.
Die messerscharfe und unbedarfte Klugheit der Bella Baxter löst weniger Wut aus. Sie hat sich, in dem, was sie tut, stets unter Kontrolle. Ihr Tanzstil ist kantig. Emma Stone und ihr Charakter wurden, so weit ich das verfolgt habe, mit weniger misogynen Hasskommentaren versehen als die weinende Monroe. Rationale Führung durch den Kopf ist, zumindest in der westlichen Welt, das zufriedenstellende und beruhigende Maß der Dinge. Und doch will auch die unbedarfte Freiheitslust der Bella Baxter eingemauert werden. In der großen weiten Welt jedenfalls lauert hinter allen Ecken der patriarchale Versuch, die Unbeugsame einzufangen. Die utopische Ausflucht ist hier zuletzt keine transzendentale Ästhetisierung, sondern die immanente Abschottung am heimatlichen Ursprungsort.
Wo Monroe, wie es scheint, grenzenlos von einer Gewaltsituation in die nächste stolpert, findet Bella Baxter letztlich, nach einer an der grausigen (Männer-)Welt verzweifelten Suche, an den Ruheort ihres Ursprungs zurück.
Nellie LaRoy an die neue Welt anpassen
Eine »Naturgewalt« ist auch Nellie LaRoy in Babylon. Als »Wild Child« füllt sie zur Zeit der Stummfilme die Kinosäle. Sie weiß ihren Körper einzusetzen, tanzt von einer Party zur nächsten und lässt ihren Trieben freien Lauf. Wie Monroe hat sie sich nicht unter Kontrolle, weiß nicht, was gut und nachhaltig für sie ist. Sie schmeißt sich in den Fluss des Lebens. Aber mit mehr Kraft und Widerstand. Das macht sie weniger zur Fläche für missbräuchliche Gewalttaten oder misogyner Anfeindungen. Im Tonfilm verliert sie an Anziehungskraft für das Publikum. Wegen der Umstellung sind jetzt gut gesprochene Dialoge gefordert, was vermehrt Schauspieler vom Theater nach Hollywood lockt. Das Kino wird intellektuell und die reine Körperlichkeit nunmehr als vulgär empfunden. LaRoys Stärke ist nicht mehr gefragt. Nur anpassen kann sie sich auch nicht.
Manny, still und anpassungsfähig, verliebt sich gleich zu Beginn in die stürmische Nellie. Zur Ruhe bringen kann er sie aber nicht. Auch seine Versuche, sie in die neue Welt einzuhegen, scheitern. Der Rausch ist uneinholbar, die Ekstase verwischt ihre Spuren.
Kaum ein anderer Film hat die Süße und den Schmerz sich wandelnder Zeiten so eindrücklich festgehalten wie Babylon. Damien Chazelle, der Regisseur, weiß das visuelle Medium des Films zum fließen zu bringen. Schade, dass der Film an den Kinokassen gefloppt ist. Aber schon jetzt ist sich eine Gruppe an Fans im Netz darüber einig, dass der Film in ein paar Jahren zum Kultstreifen gekürt werden wird. Davon bin ich auch überzeugt.
Woher also der unentwegte Drang, festzustellen, auszudeuten, zu übersetzen, zu kontrollieren, was sich in Raum- und Zeitlosigkeit verflüchtigt? Woher der Drang, die unverfügbare, wilde, ekstatische Frau einzufangen und zu belehren? Lässt sich nicht auch das erneute Aufbäumen autoritärer Strömungen als die Furchtreaktion auf zu frei werdende Frauen begreifen? Bereitet nicht alleine schon die Anarchie und Naturgewalt der Female Choice vielen Menschen Unbehagen? – Sein Herz zu öffnen, sich verletzlich zu machen, ist keine Schwäche und noch viel weniger ist es eine unausgesprochene Einladung, dieses Herz unbedacht zu betreten. Schutzlos, unbedarft und berührbar in die Menschenwelt hinauszugehen, ist vermutlich sogar die größte Stärke, die man sich bewahren kann. Es ist ja gleichsam der offenkundige Protest gegen eine feindschaftliche Welt der Besitztümer, Aufrüstung und Abschottung. Die naive Frage: Wie verhältst du dich, wenn ich mich dir preisgebe, wie sich die Natur dir preisgibt? Wirst du sie benutzen, ausbeuten und zerstören? Wirst du ihr voller Achtung und Liebe begegnen? Hast du diese Liebe in dir, wenn du vor die Wahl gestellt wirst? – Ist Norma Jeans unbedingter Glaube in die Liebe so dumm? Ist Bella Baxters naiver Erkundungsdrang so dumm? Ist Nellie LaRoys Authentizität in einer sich verändernden Welt so dumm? Pragmatisch betrachtet bestimmt.
Zum Weiterlesen und -gucken: