Trauern ist schwierig. Verluste und Abschiede sind schwer auszuhalten. Es ist einfacher, alles bei sich zu behalten. Eine Welt zu errichten, einen Ort des Rückzugs, wo alles noch an seinem Platz ist. Wo Gedanken, Gefühle und Gespenster sich untereinander bestätigen und austauschen, sich ihrer Wirklichkeit versichern, auf dass sie ja nicht bemerken müssten, dass sie der wahren Welt entrückt sind.
»Die wahre Welt«: ein philosophisch aufgeladener Begriff. Ein Begriff, über den man sich viele Gedanken machen kann. Und doch, von der Sprache der Gefühle aus betrachtet, vielleicht nur der gereinigte Zustand, der einsetzt, nachdem Tränenbäche ihren Lauf nehmen durften.
Bewusstheit über diese ausgeklügelte innere Schutzwelt zu erlangen kann schwindelerregend sein. Woran kann man sich noch halten, wenn falsche Gedanken, Gefühle und Gespenster hinfort gespült werden? Und mit ihnen auch das Selbstempfinden? Hier hat sicher jeder seine eigene Antwort. Für mich klingt in diesem Zusammenhang das Wort »Anvertrauen« schön. Die durch Erfahrung gelehrte Einstellung des Misstrauens jedenfalls befördert die rückzügige Haltsuche durch erneute Errichtung falscher Welten: Geister, Götzen, Götter, Ideologien und ausgefeilte Gedankengebäude können nur zu gut Halt spenden. Sie sind ja auch tot. Es ist sehr einfach, darin zu vertrauen, dass Totes tot bleibt, Unbewegliches unbeweglich, Willenloses willenlos. Totes kann nicht enttäuschen. Sein Vertrauen dagegen in Lebendiges zu setzen, sich jemandem anzuvertrauen, ist immer fragil. Darin der Wert.
Schreiben ist mitunter auch eine Form des Trauerns. Man kann etwas ausformulieren, um es loszulassen. Ein kleines Päckchen schnüren, es anschauen und versenden. Und was für ein Glück, wenn irgendjemand dieses verworrene, schlecht verschnürte, viel zu fest verschlossene und wahnsinnig komplizierte Gebilde von Paket empfängt und versteht. Und doch nicht nur Glück: Kaum etwas fasziniert mich mehr als das schicksaalhafte Ineinandergreifen von innerer und äußerer Welt, wo Bereitschaft und Mitwirkung sich wunderlich verzahnen. Auch wenn es ein tröstender Gedanke sein kann, so wird doch hoffentlich niemand einfach so einmal um die Ecke kommen, um uns zu erlösen.
»Und der Letzte geht vielleicht vorüber
Rainer Maria Rilke
und erkennt mich nicht obzwar ich brenn.
Ach die Bäume hängen glühend über
und ich fühle keinen Fühlenden.«
Man kann auch an sich selbst vorübergehen. Und es ist geradezu einfach, den Blick von seinem inneren Feuer abzuwenden oder das, was dort ist, in schöne Metaphern zu hüllen. Und geradezu lächerlich einfach ist es, die Abwehr in anderen zu erkennen. Aber es nützt nichts. Wer sich nicht sieht, wird nicht gesehen.
Ich habe auf diesem Blog jetzt knapp ein Jahr so gut wie jede Woche einen Text veröffentlicht. Auch dann, wenn ich keine Ideen hatte, was ich noch schreiben könnte. Nur in mich hineinhorchen wollte ich. Erspüren, was sich da in mir zu Wort melden möchte. Und jetzt sehe ich meine Texte, meine kleinen Päckchen, und mir wird ganz schwindelig. Was für ein ausgeklügeltes System! Und doch in weiten Teilen auch eine blutleere Ideenwelt.
Nur möchte ich nicht die Konsequenz ziehen, mit dem Schreiben aufzuhören. Aber was noch schreiben, wenn die inneren Repräsentationen der Wörter beginnen auseinanderfallen, sich neu zu sortieren und das gewohnte Hineinhorchen eine Öffnung hin zu einem jetzt mehr unfassbaren Strudel ist? Ich glaube, dieses Fragezeichen muss erst einmal so stehen bleiben …