a_black_night

Reichlich sentimental

Eine Treppe im kurzgemähten Rasen des städtischen Parks. Und zwar bei Nacht. Keine Laterne erhellt das dunkle Grün der geschnittenen Wiese. Keine bellenden Hunde oder schwitzenden Jogger weit und breit. Kein Vogel, der pfeift. Kein Wind, der weht. Aber doch, zwischen den Parkbänken, da, wo sonst die Hunde heiter buddeln und der Regen in den durstigen Boden sickert, ein Loch. In dieser trockenen und windstillen Nacht eine tiefschwarze Aussparung in der noch gerade so erkennbaren Oberfläche der Umgebung. Eine Aussparung als eine Treppe, die hinabführt. Es macht jedenfalls den Anschein, als führe sie hinab. Mit Gewissheit will ich das nicht behaupten. Zumal mich beim Anblick dieser Aussparung ein Schauder befällt, der jede topologische Beschreibung ad absurdum führt.

Ich überlege, einfach weiterzugehen. Was geht mich schon so ein Loch inmitten des städtischen Parks an? Und überhaupt hatte ich mir doch vorgenommen, mich – fürs Erste jedenfalls – von unheimlichen und unerklärlichen Dingen fernzuhalten. War es doch auch meine eigenartige Passion für die bittersüßen Irrwege und pfadlosen Länder, die mir in Vergangenheit vielerlei Unruhen absonderlicher Art aufgebürdet haben. Warum nicht einfach nach Hause gehen und in der Wonne eines Kamillentees, unter dem Licht der Leselampe, ein Buch von H. P. Lovecraft oder Edgar Allan Poe aufschlagen? – Moment mal! Irgendetwas stimmt hier nicht. Was mache ich Nachts alleine im Park? Was ist das überhaupt für ein Park? Warum gibt es keinen Wind, geschweige denn einen Nachthimmel, in diesem Park? Warum wird mit jeder Frage, die ich stelle, das Loch gewaltiger? Ich bemerke, dass ich längst schon von der Aussparung umschlossen bin, die ich anfangs noch von Weitem gesehen habe. Dass die hinauf- oder hinabführende dunkle Treppe keine Möglichkeit mehr ist, sondern die einzige sich mir aufdrängende Notwendigkeit.

Ich war zu langsam. Ich konnte nicht ahnen, dass hier eigentlich keine Zeit zum Durchatmen und Abwägen war. Die Schwärze der Nacht hat längst schon ihre Arme um mich geschlungen. Was ich will oder mir vorgenommen hatte, ist zugunsten dieser abwegigen Umgebung deformiert. Eine bizarre trübe Stimme fällt von der Treppe her zu mir hin. Ihr diesiger Ton verkündet Unheimliches. In muffiger Manier werde ich von fauligen Wörtern und Sprüchen umstellt, die mich sorgend stumm streicheln. »Ich weiß, was für dich am Besten ist«, krächzt es aus dem Treppenschlund. Die miefigen Worte hallen endlos in mir wider. Mir ist schwindelig. Mir ist übel. Ist mir schwindelig? Ist mir übel? Oder will es, dass mir so ist?

Der verstümmelte und modrige Raum, den ich mal als Park erkannt hatte, zerhackt mir meine Gedanken und umnebelt meine Sinne. Von überall her drängen sich mir faulige Auswege auf, die erst einmal betreten, unendlich viele weitere Irrwege als dunkle hinab- oder hinaufführende Treppen zu erkennen geben. Aus jeder Treppe schleicht ein verpesteter Ton zu mir heran, in mich hinein. Meine Augen kann ich schließen, meine Ohren nicht. Wo sind meine Arme? Tausende verfaulte Finger regnen auf mich herab. Die modrige Szene sickert in mich hinein wie ein Moor. Ich will fliehen. Ich muss fliehen. Aber dieses faulige Loch, das mich umschlossen hat, zehrt von meinem Willen. Alles, was ich mache, wird zugleich gesattelt von diesem unheilvollen Stimmengewirr, das sich sorgend seines eigenen wutentbrannten Willens nicht bewusst ist.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu fallen. Den Schlingen dieses erstickenden Raums zu entfliehen, indem ich mich ablasse wie ein Tropfen von seinem Meer. Der Raum weitet sich, wird schwärzer und schwärzer, bis ein randloses Dunkel um mich in immer größere Ferne rückt … Wann ist der exakte Moment, wenn ein Tropfen sich löst? Was passiert zwischen Ein- und Ausatmen? Woher kommen die Töne? Und woher die Kühnheit, bis an diese formlosen Ränder des Verstehbaren zu reisen? Wo es ganz still wird … … Ist nicht jede Reise eine Reise nach Hause? Ist nicht jede Suche, in der Tiefe, eine Suche nach Liebe? – »Reichlich sentimental«, denke ich, und ziehe den hakeligen Reißverschluss auf, den ich am Rande dieser absurden nächtlichen Parkszene entdecke, um hinauszusteigen.