Immer wieder gibt es unterschiedliche Richtungen und Zugkräfte im Leben, die es auszubalancieren gilt. Manch einer will frei und leicht sein und sehnt sich doch nach bindender Nähe. Vielleicht schießt er diesen simplen Konflikt bis hinauf in seinen Kopf oder seine Krone und schreibt Abhandlungen über Freiheit und Determinismus. Grübelt und grübelt über Stunden, Tage und Monate, mit der Hand am Kinn, bis sein Leben endlich neue Bahnen nimmt und selbst zur Antwort auf die Fragen wird. Dann gerät auch der Konflikt in Vergessenheit.
Tanzen
Meistens ist es vernünftig, in einer Dialektik solcher Art die Balance zu finden. Also, in Bezug auf das obige Beispiel, weder sich in aller Freiheitslust aufzuschwingen wie der Vogel noch unentwegt zusammenhängen wie die Pinguine. Hund oder Katze? Natürlich beide! Und doch, bei aller Vernunft, ergeben sich immer tiefere, abstraktere Gegenzüge, umso mehr sich der Raum der Wahrnehmung öffnet. Es ist hier wie beim Tanzen: Umso weitschweifiger die Bewegung wird, umso mehr Stabilität braucht auch die Mitte. So kann man sich – um den Ausgleich der Kräfte zu bewirken – ganz in sich selbst versenken, sich abschotten und einsiedlergleich einen stillen und rückzügigen Tanz um seine Mitte tanzen. Zumindest stolpert man dann selten. Oder: die Biedermeier-Balance.
Dagegen: Geschmacksurteile sind verschieden und in der Tiefe willkürlich und doch sind sich die meisten Augen darüber einig, dass der Tanz gerade dort an Qualität gewinnt, wo sich die Tänzerin weiter hinauswagt. Wo sie den Raum um ihre Mitte ausdehnt. Wo sie zunächst zu straucheln beginnt, wo sie kollidiert, auf die Füße tritt und hinfällt, um zum Schluss das Gleichgewicht zu finden.

Yoga
Beim Yoga und damit verbunden in der Meditation begegnet einem ein ähnliches Phänomen: Der Atemraum weitet sich, Facetten des Daseins schieben sich vor, die sonst ungesehen waren, der Zug in die eine Richtung erfordert einen ausgleichenden Zug in die Gegenrichtung. Auch hier bleibt es jedem selbst überlassen, wo er seine Grenzen setzt. Hauptsache die Grenze wird gesetzt. Eine unendliche Kraft, die eine unendliche Gegenkraft braucht, erschöpft sich. Und doch, vorsichtig und zart, weniger stolpernd, strauchelnd und kollidierend, animiert die Yogapraxis wie der Tanz zur Ausweitung des Bewegungsraums und die Meditationspraxis zur Ausweitung des Bewusstseins.
Was der Tanz noch viel mehr lehrt als die Yoga- und Meditationspraxis ist also der Mut zur Ausdehnung. Das Hinfallen zeigt die Grenze. Und es sei davor gewarnt, bis zur Sonne zu fliegen, wenn noch die Größe der Bescheidenheit fehlt, die Kraft des Höhenflugs auszugleichen!
Auch mit der Psyche verhält es sich ähnlich. Den Raum unseres Mitgefühls können wir nur so weit ausdehnen, dass die gesunde Kraft des Egoismus’ noch dazu in der Lage ist, den Ausgleich zu schaffen. Es gibt Grenzen der Dehnbarkeit. Niemand muss sich vierteilen lassen. Dennoch – und viele dieser Worte lassen sich auch auf Migrationsdebatten und Debatten des globalen Miteinanders übertragen – ist der weitschweifige Tanz der schönere, die tiefe Atmung die reichhaltigere, das ausgedehnte Bewusstsein das buntere. Wo setzen wir unsere Grenzen? Was sind wir bereit, auszuhalten?
Zugehörigkeit vs. Integrität
Gegenkräfte, die in mir noch ungehemmt walten, für die mein Leben noch keine Balance finden konnte, sind die Kräfte der Zugehörigkeit und der Integrität. Eine Abwandlung des Konflikts um Autonomie und Freiheit. Wie gerne würde ich strategisch wählen, statt mein Kreuz bei einer Partei zu setzen, die mich inhaltlich am ehesten vertritt, aber keine Relevanz hat. Wie gerne würde ich genug Demut und Sozialsinn mitbringen, um zu akzeptieren, was beschlossen ist, statt verbissen auf dem zu Beharren, was im Zweifelsfall nur ich selbst für richtig halte. Und doch kann ich mich hier nicht fügen oder mir eine Grenze auferlegen. Und so kommt es immer wieder dazu, dass ich mich lieber selbst ins Abseits stelle, statt ein fauliges Spiel zu spielen. Integer, aber dumm.
Nun könnte ich den Radius der Zugehörigkeit begrenzen und dort integer bleiben, wo es mir mühelos möglich ist. Unter »meinen Leuten« bleiben. Aber gilt hier nicht auch das ungeschriebene Gesetz der Naturkräfte, dass der weitschweifigere Tanz der schönere ist? Und ist diese Art der Abschottung in einer Welt mit Fernsehen und Smartphones nicht sowieso schon längst eine Illusion? Es geht wohl auch um so etwas wie institutionelle Zugehörigkeit.
Dazu eine kleine parabelartige Anekdote: In der Schule war ich eher ein Nerd, Mauerblümchen oder wie man es auch nennen will. Bis ich anfing, mit wildfremden Mädchen zu sprechen und einer der Angesehenen davon Wind bekam. Plötzlich wurde ich auf Geburtstage und Feiern eingeladen. Bis es eine mehr oder weniger offene Feier gab, zu der sich auch eine Person ankündigte, die zu dem Zeitpunkt wohl in den Augen vieler, willkürlich, als »uncool« galt. Mittels einer Unterschriftenaktion wurde sie aus der Party rausgevotet. Es haben alle unterschrieben, bis auf zwei.
Ausschluss
Es gehört wohl zur tragischen Erkenntnis, dass, um zwischen Zugehörigkeit und Integrität eine Balance herzustellen, der Ausschluss wie die Grenzziehung ein Stück weit notwendig ist. Dass es – so wie mit der Identitätsbildung – nur möglich ist, institutionelle Zugehörigkeit zu verspüren, wenn irgendjemand ausgeschlossen wird. Wie sollte man sonst wissen, was »cool« ist? Oder »gesund«? Ohne deren Gegenteil zu verbannen oder zu kolonialisieren. Wobei Letzteres heißt, den Uncoolen cool machen, den Ungesunden gesund, den Unnormalen normal. Nach den Maßstäben der eigenen Gruppe.
Die Dialektik dieser gegenteiligen Willenskräfte, Integrität oder Zugehörigkeit, erfordert – wenn sie den Naturgesetzen jeder Dialektik entspricht – eine Harmonisierung. Es kann also gar nicht die Lösung sein, das eine gegen das andere auszuspielen.
Vermutlich ist es hier wie mit der Endlichkeit: So wie es zur conditio humana gehört, nicht zum Großen und Ganzen zu gehören, als ein Einzelwesen in der Unendlichkeit des Daseins, gehört es zum integren Leben dazu, sich auf Gedeih und Verderb in irgendeiner Weise selbst ins Abseits zu stellen.
Obwohl auch die Erfahrung, genau wie das Tanzen, lehrt, dass das Leben selbst die Bahnen finden wird, um sich auszubalancieren. Es kann ja, wie die Philosophen wissen, nur vorwärts gelebt, nicht aber vorwärts verstanden werden. Ironischerweise war es auch jener Philosoph, der das am besten verstand, der schrieb: »Ich tanze nicht.«
Zum Weiterlesen und -hören:
Peter Bürger: »Ich tanze nicht«. (Deutschlandfunk):