Neulich las ich ein Buch über die japanische Philosophie des Ikigai. Obwohl Ikigai kein allgemeingültig definierter Begriff ist und die meisten Japaner ihre ganz persönliche Vorstellung davon verinnerlicht haben, bricht es der Autor Ken Mogi auf fünf Säulen herunter. 1. Klein anfangen, 2. Loslassen lernen, 3. Harmonie und Nachhaltigkeit leben, 4. die Freude an den kleinen Dingen entdecken, und 5. Im Hier und Jetzt sein.
Obwohl über all diese Säulen vortrefflich diskutiert werden kann, möchte ich mich an dieser Stelle auf die fünfte konzentrieren: Im Hier und Jetzt sein. Denn so oft mir das Konzept vom Hier und Jetzt schon untergekommen ist, so rätselhaft bleibt es mir bis heute. Was genau heißt das eigentlich? Wo und wann ist das Hier und Jetzt? Kann man überhaupt im Jetzt sein oder rinnt es einem nicht beständig durch die Finger, wo doch jeder Augenblick im Moment seiner Reflexion bereits vergangen ist? Bedeutet das nicht sogar, dass das Jetzt ein Ort fernab jeder Reflexion ist? Ein Augenblick vorsprachlicher, vorbewusster Erfahrung?
Definitionen
Das ominöse Hier und Jetzt ist wohl eher als zeitlicher Abschnitt zu verstehen, ein Band der Zeit, das sich eng um das Jetzt spannt, sowohl in die nahe Vergangenheit als auch die nahe Zukunft. Denn in dem Moment, in dem ich Jetzt sage, ist es bereits vergangen. Das gleiche gilt wohl auch für die räumliche Dimension des Hier und Jetzt, das eher einen vagen Dunstkreis absteckt (der Umkreis meines physischen Körpers?), ohne eine konkrete Verortung vorzugeben. Wenn mir also jemand sagt, dass ich nicht wirklich da bin, dass ich fern oder abwesend wirke – ist dann dieser vage, zeitlich-räumliche Abschnitt gemeint, von dem ich abwesend bin? Und wenn ich dagegen ein ganz unmittelbares Gefühl von physikalischer und geistiger Gegenwärtigkeit/Anwesenheit verspüre, bin ich dann im Hier und Jetzt angekommen? Ist es jenes Gefühl, das ich aus der Kindheit erinnere? Eine Art zeitloses Dahintreiben, eine Aneinanderreihung von Jetzt-Momenten?
Vielleicht ist das auch nur vernachlässigbare Semantik und philosophisches Stühlerücken. Denn worum es uns wohl in erster Linie geht, wenn wir vom Hier und Jetzt sprechen, ist unsere Beziehung zu anderen Menschen. Und Beziehungen gedeihen auf dem Boden gemeinsam verlebter Augenblicke im Hier und Jetzt. Sicher gibt es auch Brieffreundschaften und andere auf Korrespondenz beruhende Beziehungsmodelle, doch niemand könnte fundiert behaupten, unser gesamtes Sozialleben ließe sich auf solche Formen des Kontaktes beschränken. Man denke nur an die psychologischen Kollateralschäden, die die kollektiven Isolationserfahrungen der Pandemie verursacht haben oder einschlägige Untersuchungen zur frühkindlichen Sozialisation. Wir brauchen direkten, unmittelbaren Kontakt, der sich im Hier und Jetzt abspielt, sonst werden wir krank. Selbst Mary macht sich irgendwann zu ihrem Brieffreund Max auf.
Was wir also weiter meinen, wenn wir vom Hier und Jetzt sprechen, ist Aufmerksamkeit. Hier und Jetzt ist keine Redundanz, sondern ein komplementäres Begriffspaar. Schließlich kann man sich am gleichen physikalischen Ort befinden und doch völlig verschiedene Welten bevölkern, eben weil man sich kein Jetzt teilt. Das meine ich, wenn ich erkläre, dass ich woanders bin. Ich bin hier, aber nicht da, im Sinne von anwesend. Ich bin nicht aufmerksam für das, was sich vor mir, in diesem Moment abspielt, bin nicht aufmerksam für den Menschen, mit dem ich diesen Augenblick an diesem Ort teile. Und dieser Zustand ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wir sind doch meistens mit den Gedanken woanders – in der Zukunft und den Prüfungen, Bewerbungsgesprächen, Meetings, die uns erwarten oder in der Erinnerung, an Menschen, die nicht mehr da sind, an vermeintlich profane Details, die sich uns eingebrannt haben seit wir ein Kind sind.
Fragmentierungen
Manchmal fühlt sich meine Aufmerksamkeit wie viel zu dünn verstrichene Erdnussbutter an – sie deckt viel Oberfläche ab, aber da ist keine Substanz. Nur trockenes Brot und eine Erinnerung an den Geschmack von Erdnüssen. Ich weiß, dass ich mit diesem Gefühl nicht alleine bin. Und dass es für das, was ich anekdotisch darlege, mitterweile handfeste Befunde gibt. Unzählige Studien zeigen, dass die bloße Anwesenheit von Smartphones die Aufmerksamkeit und damit auch das eigene Leistungsvermögen negativ beeinflusst1. Wir versuchen unseren flatterhaften Fokus und die Atomatisierung unserer Aufmerksamkeit manchmal über die irrige Annahme zu rechtfertigen, wir hätten eben gelernt zu multi-tasken. Aber das ist ein Irrlaube. Was unser Gehirn wirklich tut, wenn es mit mehreren Aufgaben gleichzeitig konfrontiert wird, ist eine Form kognitiver Jonglage.
They’re switching back and forth. They don’t notice the switching because their brain sort of papers it over to give a seamless experience of consciousness, but what they’re actually doing is switching and reconfiguring their brain moment-to-moment, task-to-task – [and] that comes with a cost.
Johann Hari, Your attention didn’t collapse. It was stolen, The Guardian
Es scheint kein Zufall zu sein, dass mit der zunehmenden Fragmentierung alltäglicher Kommunikation durch das Smartphone auch Gegenbewegungen rund um Achtsamkeit, Meditation und Yoga an Aufwind gewonnen haben. All diese Praktiken und philosophischen Konzepte zielen darauf ab, ein Gefühl für die eigene Gegenwärtigkeit (wieder)zu(-)gewinnen. Auch das neu entfachte Interesse an den antiken Denkern der Stoa, an Einstellungen der Gelassenheit und Ausgeglichenheit, lässt sich anhand dieser Gemengelage erklären. Auch ich habe zunehmend das Gefühl, dass mich Technologien, entgegen des einst verlauteten Heilsversprechens von grenzenloser Kommunikation und eines stetig verbundenen global village, eher vom Hier und Jetzt isolieren als sie mich diesem näherbringen. Und mehr noch: dass mich Technologie viel öfter von Menschen trennt als mich mit ihnen zu verbinden.
Es gibt einen genialen Film des französischen Filmemachers Olivier Assayas, in dem diese gespenstische Fragmentierung unserer Selbst auf kluge Weise mit einer Geistergeschichte verknüpft wird. Mit zunehmender Laufzeit verwischen darin die Grenzen zwischen Maureens (Kristen Stewart) gespenstischen Begegnungen und ihrem eigenen, medialen Echo, das auf Bildschirm- und Handyoberflächen widerhallt. Nicht nur die Geister, die Maureen sieht, scheinen alsbald von der Realität entrückt, vom Hier und Jetzt entkoppelt, sondern auch sie selbst – als Abdruck auf digitalen Oberflächen, zum Geist geworden.
Wenn ich in meine Gedanken versunken bin, während andere Menschen bei mir sind, teile ich zwar das Hier, aber nicht das Jetzt. Und während ich in Zoom-Calls und Online-Chats zwar Jetzt bin, fehlt das Hier, der gemeinsame, geteilte Raum – Nähe. Hier und Jetzt geht in seiner vollkommenen Form nur analog. Digitale Dienste sind sicherlich hier und da eine sinnvolle Ergänzung, aber sie bleiben eben das: eine Ergänzung, Kompensat in Situationen großer geografischer Distanz. Sich im Hier und Jetzt zu begegnen bedeutet, das Oberflächenrauschen unserer Accounts und Chats, der Bespaßungs- und Ablenkungsmaschinerien milliardenschwerer Konzernen für einen Moment verstummen zu lassen. Es bedeutet auch, genügsam zu sein mit dem, was sich vor einem abspielt; genügsam zu sein, mit den Menschen, die einem gegeben sind.
Verortungen
Das Hier und Jetzt ist der Sand unter meinen Sportschuhen auf dem Tennisplatz, die Gleichmäßigkeit meiner Atmung, mit der sich meine Brust hebt und senkt, der Blick auf den Ball des Aufschlagenden, der Moment, in dem der Ball vom Schläger in meine Richtung beschleunigt wird und sich mein ganzer Körper anspannt, bereit, das Spielgerät mit Slice Richtung Grundlinie zu bugsieren. Das Hier und Jetzt ist die Kunst, die mich nicht betäubt, sondern mich die Welt neu sehen lässt. Das Hier und Jetzt ist der Schattenfleck meiner Zimmerpflanze auf der weißen Schlafzimmerwand.
Doch im Hier und Jetzt zu leben ist nicht einfach. Es ist hart, unvorstellbar hart. Gerade jetzt merke ich, wie sich meine Aufmerksamkeit immer wieder zerstreut, sobald ich mit meinen Gedanken nicht mehr weiterkomme. Mit dem Smartphone in der Tasche haben wir gelernt, jeden Augenblick der Anstrengung oder aufkommenden Langeweile durch unmittelbare Ablenkung zu durchkreuzen. Ein fataler Impuls. Ich glaube, mein Medienkonsum hat meiner Fähigkeit zu schreiben und zu denken einen Bärendienst erwiesen. Ich glaube, das berührt auch etwas, wovon David Foster Wallace sprach, als er sich in seiner berühmten This is Water-Rede an die Absolventen des Kenyon College richtete und erklärte, dass der wahre Wert einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung darin liege, zu lernen, wie man denkt.
learning how to think really means learning how to exercise some control over how and what you think. It means being conscious and aware enough to choose what you pay attention to and to choose how you construct meaning from experience.
David Foster Wallace, This is Water
In den Contentströmen des Internets kann man sich schnell verlieren und am Ende landet man nirgendwo. Ganz sicher nicht im Hier und Jetzt. Man landet, wohl eher, in einem Zustand schmerzfreier, tauber Apathie, einem Ort, der vom Tod nicht mehr zu unterscheiden ist. Im Hier und Jetzt zu leben, erfordert Mut und Übung. Es erfodert Übung, sich nicht vom eigenen, inneren Monolog hypnotisieren zu lassen und stattdessen sensibel und aufmerksam für das zu sein, das einen zu jeder Sekunde umgibt. Es erfodert Mut, sich jeden Tag aufs Neue für die Herausforderungen des Lebens zu entscheiden und nicht für die unendlichen Möglichkeiten des Aufschiebens, Ablenkens und Betäubens. Es wird nicht immer gelingen. Und das ist okay, dafür sind schließlich Neuanfänge da.
[1] The mere presence of a smartphone reduces basal attentional performance
[2] Your attention didn’t collapse. It was stolen