Manuel
Ich erinnere mich noch an die Bundesjugendspiele in der Grundschule. Alljährlich durften sich die Schüler und Schülerinnen auf dem großen Sportplatz im Dorf miteinander messen. Punkte wurden gezählt und später gab es dann, je nach Leistung, die Urkunde: Teilnehmer-, Sieger- oder sogar Ehrenurkunde. Es gab einen Schüler, Manuel, der immer schneller war als ich. Mein Erzrivale sozusagen. Abseits der Laufbahn mein Freund. Aber auf dem großen Sportplatz mein Gegner. Im Sinne des Spiels um Punkte.
Im letzten Schuljahr der Grundschule, also in der vierten Klasse, hat Manuel aufgrund von Krankheit bei den Bundesjugendspielen gefehlt. Zu meinem Glück! Was für ihn eine harmlose Erkältung war, bedeutete für mich den lang ersehnten ersten Platz. Endlich! Drei Jahre des Messens, der schweißtreibenden Anstrengung mussten vergehen, bis eine schicksalhafte Fügung mich letztlich ohne Vorauslaufenden die Ziellinie überqueren hat lassen. Mehr Punkte als sonst hatte ich dadurch nicht. Und ich war auch traurig. War es doch immer ein spannungsvoll erwartetes Duell zwischen uns gewesen, das jetzt ausfiel. Es hat an dem Tag ein bisschen weniger Spaß gemacht ohne Manuel.
Ich weiß, dass es nicht allen so ging, aber ich für meinen Teil habe solche Spiele immer geliebt. Es ging ja um nichts. Wir durften uns messen, mit uns selbst und mit anderen. Am Ende saßen wir alle wieder zusammen, haben gelacht oder geweint über unsere Punkte, mit denen nichts weiter geschah, außer dass sie vielleicht als Staubfänger im Regal landeten. Wir sind mit nichts gestartet und mit nichts wieder gegangen.
Mama
Dann habe ich noch eine weitere Erinnerung: Ein paar Jahre später sollte meine Mutter den ersten Platz belegen! Wie cool! Meine Mutter bekommt einen Preis! Sie arbeitete zu der Zeit in einer Fabrikhalle. Ein Familienunternehmen, das Gummiplatten für Spielplätze produziert. Wobei genau genommen nicht das Unternehmen und schon gar nicht die »Familie« irgendetwas produziert, sondern die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Halle. Nach jahrelanger treuer und in schweißtreibender Anstrengung diszipliniert ausgeführter Mitarbeit verlieh man meiner Mutter auf der Weihnachtsfeier den »Großen Preis des Mittelstands«. Endlich! Eine Belohnung für die harte Arbeit. Neben der zur Schau gestellten »Anerkennung« bestand der Preis aus einem Dekoglas mit Lasergravur im Wert von 10€ und einem Gutschein für ein Restaurant im Wert von 150€. Das Restaurant befindet sich im Hotel des Chefs. Das Hotel wiederum ist eine Kapitalanlage.
Meine Mutter hat anscheinend wirklich gute Arbeit geleistet. Sie war unentbehrlich. Nach 11 Jahren Plackerei ohne einen einzigen krankheitsbedingten Ausfall (Disziplin und Anstrengung machen sich doch bezahlt?) bat sie ihren Chef um Urlaub, um in Schweden ihren Vater zu beerdigen. Den Urlaub hat sie nicht bekommen. Der Zeitpunkt sei ungünstig. Sie sei für ihre Stelle unverzichtbar. Unverhandelbar. Da hat meine Mutter gekündigt. Eine Tochter beerdigt ihren Vater.
Giuseppe
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich bei Flaschenpost in den Lagerhallen gejobbt. Kisten geschleppt. Zusammen mit vielen anderen jungen Männern. Beeindruckt hat mich vor allem Giuseppe: Vollzeitmitarbeiter und ungefähr um die Mitte 20. Wenn in unserer Halle so viele Bestellungen reinkamen, dass die Kisten sich auf dem Fließband stauten, wurde er aus seiner Halle zu uns gerufen: »Giuseppe!!!«. In Eileswinde kam dann der eher dünne, aber sportliche Mann herübergesaust, um die Kisten – zwei in jeder Hand – im Rekordtempo vom Fließband zu schwingen. Der Rücken hart. Die Schultern schon sichtlich nach vorne in Richtung Erde gekippt. Sein Preis ist die Anerkennung und der Respekt der Mitarbeiter und Teamleiter.
Auch Giuseppe hat sich unentbehrlich gemacht. Über Weihnachten wollte er seine Familie in Italien besuchen. Über Weihnachten läuft aber auch das Flaschenpost-Geschäft auf Hochtouren. Gerade ein Giusseppe kann da nicht fehlen.
Leere
Ich habe in den letzten zwölf Monaten eine Fortbildung zum staatlich geprüften Grafikdesigner bestritten und kürzlich abgeschlossen. Wieder einmal habe ich in Anbetracht eines »Erfolgs« nichts als Leere verspürt. Ich hatte mit einer herausfordernden Abschlussprüfung gerechnet, die es gar nicht gab. Im Grunde ist das Zertifikat erkauft. Ich müsste mich schon selbst darum betrügen, wenn ich mir hier Glückwünsche aussprechen wollte. Jeder wohlgeborene Sohn kann dieses Zertifikat mit Minimalaufwand schon bald sein Eigen nennen. Wie bei den meisten anderen Zetteln und Urkunden in meinem Ordner, ist auch dieses Zertifikat nichtssagend oder höchstens eine Fälschung, denn eine falsche Gesellschaft kann nur Fälschungen hervorbringen. Und für mich ist eine Gesellschaft falsch, die Einsatz, Mühe, Ausdauer, Mut und Mitgefühl nicht auszeichnet, sondern diese Eigenschaften, aufgrund ihrer Unentbehrlichkeit, – gleich einem Nutztier – vor ihren Karren spannt.
Ist die Leere, die ich bezüglich der meisten allgemein anerkannten Auszeichnungen empfinde, mein persönliches Versagen? Symptom einer kurierbaren psychischen Fehlentwicklung? Oder ist sie Ausdruck einer berechtigten Kritik? Und würde eine Aufgabe dieser Kritik nicht bedeuten, subtilerweise auch den »Großen Preis des Mittelstands« als solchen zu akzeptieren? Miteinzuschwören in die durch Lagerhallen tönenden Rufe: »Giuseppe!!!«? Ich frage mich das wirklich …