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Gefühlsreichtum

Wie fühlst du dich? Eine einfache Frage, deren Beantwortung jedoch die ein oder andere Hürde bereithält. Nur allzu schnell liegt das lupenreine »gut« auf der Zunge. Das Wort, das einen entlässt. Das Wort, das wie ein Abwinken ist: Hier brauchen wir nicht weiter zu gehen, weiter zu fragen. Hier ist alles gut, alles okay … na gut, dann weiter.

Oder wir halten inne, spüren in uns hinein, in unsere Körperempfindungen und entdecken eine Vielzahl an Nuancen und Schattierungen, die das einstige »gut« als ein vorschnelles Abwinken enttarnen könnten. Ein sozialer Code und ein Kommunikationsmittel, nicht aber die ehrliche Antwort auf eine einfache Frage. Was aber wäre eine ehrliche Antwort?

Ich spüre in mich hinein und gerade in diesem Augenblick durchströmt mich der Kardamom-Geruch einer aufgewärmten Zimtschnecke. Oh, mir geht’s verdammt gut! Jedenfalls für diesen Moment. Urplötzlich mischen sich weitere Nuancen bei: eine melancholisch gefärbte Erinnerung an die schwedischen Zimtschnecken, die meine Mutter immer gebacken hat. Oh, und noch was: der Gedanke daran, dieses warme Gebäck haben zu wollen, aber doch das Vorhaben im Hintergrund, ein bisschen mit dem Geld haushalten zu wollen. Mmmh, aber was ein Genuss, alleine schon der Duft. Dann noch das wohlige Gefühl einer erholsamen Nacht und eines so gut wie butterweichen Nackens. Hier und da aber doch ein leichtes Pieksen und Zurren in meinem Körper. Zudem die Impression des üblichen Hannovergraus und die funktionstüchtige Eifrigkeit im Gesicht der Hannoveraner. – Und das sind nur ein paar Regungen, die sich beim Durchforschen meiner Körperempfindungen hervortun.

In Wirklichkeit ließe sich das, was wohl am ehesten als »gemischte Gefühle« bezeichnet werden kann, bis zur Unendlichkeit hin ausdifferenzieren. Aber wer will schon so tief hinein gehen, zerfallen und immer wieder zerfallen, bis die Komplexität der einzelnen Empfindungen nunmehr ein tänzerisches Ringen von Kräften ist, vorsprachliches Triebleben?

Wer schonmal ein bisschen meditiert oder sich anderweitig in der Selbstbeobachtung geschult hat, wird vielleicht auch bis in jenen Bereich hervorgedrungen sein, der sich hinter, vor oder jenseits jener wellenartigen Unendlichkeit von Regungen wie ein stiller Teich im morgendlichen Nebeldunst offenbart: Gleichförmigkeit, Friede, Stille, das Ende der Zeit. Einmal erlebt, von nun an auch ein hintergründiger Begleiter jeder Gefühlsstürme.

Also, wie fühlst du dich? Wohl irgendwas zwischen dem abwinkenden »gut« und der nicht mitteilbaren Stille. Dieses Dazwischen braucht, um es zu benennen, eine Verortung in Raum und Zeit, eine Identifikation mit etwas, das die nur assoziativ und lose zusammenhängenden Affekte zu einer die Stunden überdauernden Emotion oder zu ein die Tage überdauernden Gefühl werden lassen. Zur Entdeckung dieser Gefühle in sich hineinzuspüren, kann aber auch fehlleiten. Es braucht zumindest weniger die reale Momentaufnahme der minutiös durchforschten Körpersignale, sondern das imaginäre Bild eines überdauernden Ganzen. Mir geht es so und so, weil mein Jahresstart so und so abgelaufen ist, weil ich mich in dieser und jener Lebenslage befinde. Die Bereitschaft zur Imagination, nicht um die realiten Empfindungen an sich zu entdecken und auszudifferenzieren, sondern als ein soziales Wesen in den Austausch von Gefühlen zu kommen, auf ähnliche Weise zu fühlen und Resonanz zu ermöglichen.

Das mag alles ein wenig autistisch klingen. Bei genauerer Betrachtung aber scheint es so, als richte sich jeder in seiner Selbstwahrnehmung irgendo anders zwischen dem inhaltsleeren Sozialcode »gut« und der meditativen Gleichförmigkeit ein. Jemand, der nach der gut riechenden Zimtschnecke giert und sie sogleich kauft und verspeist, von einer Versuchung zur nächsten stolpert, wird vermutlich so impulsgesteuert antworten wie er handelt. Ein asketischer Mönch, der ein Leben voller Entbeerungen lebt, wird aus jener Stille heraus antworten, in die er sich tagein tagaus hineinmeditiert. Wie jemand sich fühlt und wie jemand fühlt, dass er sich fühlt, hängt also in direkter Weise davon ab, wo er sich in diesem Leben verortet sieht und sah. Und ich denke, in einem viel materielleren Sinne, als man sich eingestehen möchte.

Irgendwo habe ich von einer Studie gehört, dass es im Schnitt bis zu acht Generationen dauert, sich aus ärmlichen Verhältnissen herauszukämpfen (A Broken Social Elevator? How to Promote Social Mobility). Woanders habe ich weitere Studienergebnisse aufgeschnappt, die beschreiben, dass die neuronalen Strukturen von Menschen in Armut sich dahingehend von den Wohlständigen unterscheiden, dass sich darin gewisse Muster der Impulsivität abzeichnen: »Wie komme ich jetzt und unmittelbar an ein bisschen Geld für die nächste Tankfüllung?«. Natürlich ist daran auch die klassistische Rechtfertigungserzählung vom triebgesteuerten Armen gekoppelt, der – weil er sich nicht unter Kontrolle hat – selbst Schuld an seiner Misere ist. Ein Glück, dass »die Armen« hier ein schlagendes Gegennarrativ an der Hand haben: weil sie die tierische Seite in sich leben, haben sie auch tierisch guten Sex. Nicht unter Kontrolle? Ja, aber gerne! Oder wie einer meiner Stiefväter immer zu sagen pflegte: »Dumm fickt gut.« Hierzu habe ich allerdings keine Studie aufgeschnappt.

Differenzierter betrachtet geht es wohl nicht um eine »gierige« Grundeinstellung, sondern um Stress. Die leere Tankfüllung am Monatsende stresst. Und Stress sorgt für impulsivere Handlungen (Stress signalling pathways that impair prefrontal cortex structure and function). Außerdem schränke Armut die Aufmerksamkeit ein. Wer mit wenig Budget in ein teures Restaurant geht, der nimmt vor allem die Preise auf der Speisekarte wahr und verpasst vieles drumherum (Attentional trade-offs driven by resource scarcity).

Um sich vorbildlich in Raum und Zeit verorten zu können, ein imaginäres Ganzes vorstellen zu können, das es einem ermöglicht, sich gefühlsmäßig jenseits der aufbrausenden Impulse heimisch zu machen und zum Beispiel »richtig« zu trauern, braucht es ein grundlegendes Gefühl von Sicherheit, das nicht bloß in der Kindheit erworben, sondern – so legen die von mir aufgeschnappten Studien und das gesamte nun vermehrt aufkommende Wissen über Transgenerationalität nahe – sich über Generationen hinweg in unsere Körper einschreibt.

Das wage Gefühl permanenter existenzieller Bedrohung, das für einen Lebensstil in Armut handlungsleitend ist, ist zäher als der Lebensentwurf einzelner Menschen und auch zäher als es eine Kindheit in Geborgenheit oder eine therapeutische Aufarbeitung wettmachen könnten. Langsame, Resonanz ermöglichende Gefühle und eine gemäßigte Impulskontrolle (die nicht bis in die asketische Stille hinweg dissoziieren muss) sind ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann. Sie sind vielleicht sogar ein Privileg Weniger und das sie voraussetzende Maß an Sicherheit möglicherweise nicht einmal natürlich – mit allen gesellschaftspolitischen und klimarechtlichen Implikationen, die das mit sich bringt.


Passende Serienempfehlung (wenn auch in gewisser Weise das Aufsteigernarrativ nährend): Maid auf Netflix. Die Serie thematisiert das Zusammenspiel von Klasse, psychischen Problemen und Abhängigkeitsverhältnissen.

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