Sie hatte an diesem Tag schon beim Aufstehen ein ganz eigenartiges Gefühl. Ihr war, als durchströmten sie alle denkbaren Gefühle dieser Welt gleichermaßen. Und zwar in einer nie da gewesenen Intensität. Sie merkte auch, dass diese Gefühle nicht ganz ihr selbst zu gehören schienen. Dass sie, wie beim Hören eines Tons, zwar die Empfängerin dessen sei, was sich kundtut, nicht aber deren Ursprung. So war die Haltlosigkeit, die sie empfand, gleichsam die Haltlosigkeit der Welt. Die Freude war die Freude des Daseins. Ihre Wut war kosmisch.
Nun könnte man sagen, sie habe eben eine bewegte Nacht voller abstruser Träume hinter sich gehabt. Ebenfalls war es ja auch einer dieser Tage ihres Zyklus, an denen sie es ohnehin gewohnt war, ihre überbordenden Gefühle kaum noch halten geschweige denn verstehen zu können. Obgleich ihr auch dabei stets klar war, dass die Intensität dessen, was sich in ihr abspielte, keine bedeutungslose Anomalie war, sondern etwas anzeigte. Aber das hier, heute, war etwas ganz anderes. Seit jeher sagte man ihr nach, für diese Welt ganz und gar zu sensibel zu sein. Und ja, selbst noch die zarteste Berührung konnte in ihr gleichermaßen Verzückung als auch Handgranate sein. Ein durchweg berührbares, unerhört anfassbares Dasein. Aber auch eines, das sich, wie auch immer, irgendwie noch vollführen ließ.
An jenem besagten Tag aber – und es stimmt, ihre Träume der vorangegangenen Nacht waren tatsächlich überaus abstrus – war ihr, daran gab es keinen Zweifel, vollkommen klar, dass etwas Unmögliches geschehen würde. Schon öfter war ihr der Gedanke gekommen, dass Gefühle nicht einfach die Reaktion auf Geschehnisse, also Vergangenes waren, sondern auch Vorbote von etwas, worüber wir, im Bewusstsein jedenfalls, noch nichts wissen. Man könnte das »Ahnung« nennen. Sie fand diesen Begriff aber zu alltäglich für das fein abgestimmte Wechselspiel von Stimmungen, das ein ganz und gar unvorhersehbares Ereignis bereits Stunden zuvor in ihr vorbereitete. Daran erinnert, fragte sie sich jetzt natürlich: Was steht heute bevor? Welches Ereignis kündigt ihr diese in höchstem Maße ganze Welten umfassende Stimmung an? Jedenfalls war ihr, daran gab es keinen Zweifel, klar, dass, was auch immer geschehen würde, darin ihre ganze Existenz gemeint sei. Dass, sobald tatsächlich geschehen würde, was hier in unsagbarer Weise bereits in ihr zu reifen begann, jede Faser in ihrem Leib erzittern würde, alles Fühlbare der Menschheitsgeschichte in sie hineinfließen würde und sie das Gefäß und der Schoß für jeden jemals ertönten Ton, für jede jemals veräußerlichte Gebärde, kurz für die Gesamtheit aller Ausdrücke werden würde. Als ein einziger unverhältnismäßiger unmöglicher Eindruck.
Wie sollte sie diesen besonderen Tag bestreiten? Sollte sie, wie immer, zu Arbeit gehen? Sollte sie, wie sie es bereits gewöhnt war, um 7:30 Uhr ihren Mann wecken, der, wie sie es auch gewöhnt war, von ihren Stimmungen keinerlei Notiz nehmen würde, auch nicht, wenn es ein solch absonderliches kosmisches Etwas war, dass in ihr rumorte? Sie beschloss, zu handeln. Es war eindeutig: Was sich hier ankündigte, war nicht von dieser Welt. Sie musste dem auf die Spur kommen. Sie betrachtete es nunmehr als ihre Aufgabe, es – was auch immer »es« sei – zu entwirren.
Als Erstes sprach sie mit ihrem Mann darüber. Aber hier war ihre Ahnung – jetzt fand sie das Wort »Ahnung« passend – richtig, dass er weder verstand noch Notiz von irgendetwas genommen hatte. Also weiter.
Gespräch mit ihrem befreundeten Philosophie-Professor, der ganz angetan war. So überaus anregend. So überaus diskutabel, streitbar, mystisch, transzendental und weiß Gott, was noch alles. Und doch war seine Erregtheit, das war ihr nicht entgangen, mehr eine Erregtheit über ihre intellektuelle Entblößung und ihr Vertrauen in ihn als »weisen Mann vom Fach« als eine aufschlussreiche und ehrliche Beschäftigung mit ihrem unerklärlichen Zustand. Also weiter.
Vielleicht wisse ihre Therapeutin mehr darüber zu sagen? War es nicht auch sie, die ihr über jeden Schlamassel bereits hinweg geholfen hat? Die es auch sonst verstand, ihre verworrenen Zustände zu entwirren? Sie hielt sich damit zurück, etwas von »ozeanischen Gefühlen«, »Ich-Entgrenzung« oder »Regression« zu erzählen, auch wenn ihr solche Begriffe durch den Kopf schossen (sie hatte ja bereits mehrfach Freuds Aufsatz über das »Unbehagen in der Kultur« gelesen). Aber nein, sie beobachtete erst einmal, was sie sah. Urplötzlich erschrak sie. Ihr war schlagartig etwas aufgefallen, was ihr vorher nicht aufgefallen war. Sie hatte ein ganz und gar anderes Gesicht. Ihre Miene war weder gelassen, noch angespannt, noch traurig, noch freudig, noch müde, noch wach, noch wütend, noch neutral, weder ausdrucksstark noch ohne Ausdruck. Es war, als falle sie in einen Strudel. Was natürlich Angst in ihr auslöste. Ein Gegenübertragungsgefühl! Das ist es! Das ist es, was sie eigentlich fühlt, hinter all der kosmischen Verwirrung. Aber auch das war es nicht. Mit der Angst hatte sie sich längst arrangiert, war gewissermaßen in steter Freundschaft mit ihr verschwistert, Seite an Seite. Hier rumorte etwas ganz anderes, das den Rahmen dessen, was sag- und haltbar ist in allumfassender Weise herausfordern sollte. Sie fühlte sich verstanden, sie fühlte sich gesehen, sie fühlte sich sogar gehalten, und doch war ihr klar, dass sie ihren Zustand nicht würde abriegeln können, wie die Therapeutin es mit ihrer Reaktion tat. Also weiter.
Ihr gingen allmählich die Ideen aus. Doch das Gerede von Angst und ihr gewissermaßen entfremdeter, ehrfürchtiger Zustand erinnerte sie an das Gefühl, dass sie in Kindertagen beim Betreten der Kirche hatte. Deshalb suchte sie – wenngleich es sie durchaus Überwindung kostete und ihr Selbstverständnis herausforderte – einen Pfarrer auf. Sie klärte ihn über ihren Zustand auf und sie gab sich beste Mühe damit, sich mit Worten nicht unnötig zu verkomplizieren. Weder wollte sie den Eindruck erwecken, ihr stünde irgendeine Epiphanie bevor, noch wollte sie, dass er sie für besessen hält. Ihre Vermutung war ja bereits, dass ein Mann der Kirche sich zumindest nicht davor scheuen würde, die Dinge zu entgrenzen und in eine Linie mit dem Himmel, Engeln und Teufeln zu stellen. Ihre Gefühlslage stand aber in keiner Verbindung mit solchen Symbolen. Überhaupt war es ja ihr Leib, der etwas vorzubereiten schien. Ihre Haut war es, die an jenem eigentümlichen Tag so unerhört anfassbar war und es war nicht ihre Seele, sondern ihre Sinne, die geflutet wurden. – Das Gespräch mit dem Pfarrer war nett. Kein Gerede über Engel und Teufel. Dafür aber auch ohne Substanz. Das Setting der Kirche erschien ihr mit einem Mal wie eine Farce. Und bereits als Kind fand sie es merkwürdig, dass in der Kirche so wenig gelacht wurde.
Sie bemerkte, dass ihre Suche nach einer Antwort, ihr Bestreben danach, das Rätsel zu enträtseln, längst schon der Erzählstruktur spiritueller Sinnsuche glich, was ihr missfiel. Nun ging es ihr ja nicht darum, ein »Warum« des Lebens zu finden und auch nicht darum, verstanden zu werden. Jedenfalls nicht so, wie es gewöhnlich geschieht. Ihr bisheriger Tagesablauf war ein Durchlaufen schablonenhafter Stationen der Erkenntnisfindung. Das missfiel ihr. Ebenso missfiel ihr ihr Missfallen in dieser Sache: sie war sich ja ganz und gar bewusst darüber, wie snobistisch ihre Suche nach einer Anerkennung ihres einzigartigen Zustands anmuten könnte; würde man diesen Zustand nicht von innen heraus erleben, sondern von außen betrachten. Und auch ich, als Erzähler des denkwürdigen Tags dieser jungen Frau, muss gestehen, durchweg mit den Worten zu ringen. Und das, obwohl ich mit ihrem Zustand in direkter Weise in Verbindung stand. So war ich es, der – was für ein ungeheuerlicher Zufall – in jenem Augenblick magnetisch ins Geschehen gezogen wurde, der der Gipfelpunkt ihres kosmischen Gleichklangs alles Fühlbaren werden sollte. Ein Moment, der weder in Zusammenhang mit ihrem vorherigen Tagesablauf noch mit ihrem bisherigen Leben stand. Der auch in keinem Zusammenhang mit mir stand. Außer mit der unabänderlichen Tatsache, dass sich in ihr und um sie eine Notwendigkeit vollzog, die den menschlichen Geist übersteigt. Eine Notwendigkeit, die sie bereits, Stunden zuvor, in sich vorbereitet fühlte und die ich jetzt, Tage später, zu erzählen versuche.
Ihre Stimmungslage schien sich zu verschärfen. Es war ihr, als würde sie erneut den Geburtskanal verlassen. Das Licht der Sonne durchströmte sie, sie schrie den Schrei einer Kriegerin, das Leben funkelte in ihr wie abertausende Sterne. Sie zerbrach unter der Last und Schwere des Daseins und fand sich in gleichem Maße in die Wonne puren Glücks gehüllt. Sie wusste, dass in ihr eine Schöpfung sich vollzog, so wie sie sich seit Anbeginn der Zeit vollzog. Stetig sich wiederholend, im Kleinen wie im Großen. Sie war durchdrungen von einer unendlichen Lebens- und Liebeskraft. Und ihr Körper war wohl irgendwie noch imstande dazu, diesen alles umfassenden Zustand zu halten. Wenngleich ihre Augen, in ehrfürchtiger Ekstase geweitet, ein uraltes Licht aus den Anfängen des Seins aufzufangen schienen. Sie war jetzt in vollkommenem Gleichklang mit dem, was noch geschehen würde. Es hatte sich bereits vollzogen, was noch bevorstand.
Ich sah sie von Weitem. Mir war nicht entgangen, dass sie die Haltlosigkeit hielt, in ihr sich etwas zu vollziehen schien, was mich und alles, was ich bis dahin kannte, überstieg. Ich hatte keine Verfügungsgewalt mehr über mich noch sonst etwas. In ihr war ein Schöpfungswille und ein Schicksal gebündelt, die von nun an maßgeblich und handlungsleitend waren. Der Geruch, den sie verströmte, ließ die Parfumgerüche der herumstehenden Passanten im Bruchteil einer Sekunde verblassen. Es war ein Duft unverschnörkelter roher Schönheit. Einer, von dem ich mir bereitwillig meinen Willen aufdiktieren ließ. Mir war, als würde ihr unsagbarer Zustand nun auch in mich hineinströmen. Mit jedem Atemzug, den ich tat, tat ich einen Schritt mehr aus mir heraus und auf sie zu. Die archaische Kraft ihres unerlaubten Dufts ließ mich, ohne zu Zögern, alles, was ich bis dahin für wahr und für richtig gehalten hatte, aufgeben. Mich überkam die Angst. Was wäre, wenn sich unsere Augen treffen sollten? Ich wäre nicht, wie sie, imstande dazu, die Unendlichkeit in mir zu halten. Aber ich hatte keine Wahl. Es gab nichts mehr außer ihr. Sie hatte ja das gesamte Dasein in sich aufgenommen.
Ich näherte mich ihr und war längst schon außerstande, etwas zu sagen oder zu denken. Ich war restlos von ihrer Schönheit erfasst. Und dann … ich wurde vernichtet. Ihre Augen trafen die meinen.
Ich fiel ins Nichts. In einer endlosen Schwärze entzündete sich ein alle Endlosigkeit noch übersteigendes gleißendes Licht. Unsere Gesichter fielen ineinander. Wir küssten uns.
Wir küssten uns, ohne jemals ein Wort miteinander gesprochen zu haben. Wir waren beide zur gleichen Zeit von etwas erfasst, das uns überstieg. Sie versagte darin, zu erklären, was sich in ihr vorbereitete. Ich versage darin, zu erzählen, was sich ereignet hat. Ja, wir küssten uns. Ohne uns jemals gesehen oder gesprochen zu haben. Bei Tageslicht, an einem Mittwoch, zwischen all den Passanten. Aber was sich da nun eigentlich abgespielt hat, in ihr, in mir, in jener kurzen Unterbrechung des Nachvollziehbaren, lässt sich nicht wirklich erzählen.