Sie kann sich nicht daran erinnern, dass ihr Vater sie mal so richtig in den Arm genommen hätte. Zumindest zeigt er sich in ihren Kindheitserinnerungen zwar durchaus als ein warmherziger Mann, aber als einer, der stets zu allen sinnlichen Dingen einen gewissen Sicherheitsabstand suchte. Vor allem, wenn es um Dinge ging, die eine gewisse Weichheit und Rührung des Gefühlslebens betrafen. Diese körperlich auszudrücken war ihm nicht möglich. Es wäre ihm nicht einmal in den Sinn gekommen. Er war ein Intellektueller. Er arbeitete intellektuell. Er dachte intellektuell. Er bewegte sich intellektuell. Sein Ausdruck war kantig und meistens präzise. Aber zu allem, was in Ungenauigkeit verwässerte, suchte er den Abstand, wie viele Männer seiner Generation. In gewisser Weise war er auch stolz darauf, dass er nicht einer jener impulsiven Väter war, die er nur allzu oft beobachtete und mehr noch aus den Beschreibungen seiner Bücher kannte: meist bildungsferne Männer, die ihre überbordenden Gefühlsregungen ausagierten und das, was in ihnen war, ungehemmt an ihren Kindern oder Frauen ausließen. So war er nicht!
Sie kann sich noch sehr gut an das Studierzimmer ihres Vaters erinnern. Wie gerne hat sie sich darin aufgehalten! Sie glaubt sogar, auch wenn sie sich hierbei nicht ganz sicher ist, dass die früheste Erinnerung an ihren Vater aus diesem Zimmer stammt. Sein Gesicht nachdenklich über einem Buch, hin und wieder die Brille die Nase hochschiebend. Und wenn sie Glück hatte, wenn sie geduldig genug war, verlor er nach langen Phasen der Versenkung vielleicht für einen kurzen Augenblick seine Aufgabe aus den Augen. Dann schaute er konzentriert aus dem Fenster oder zu seinem Bücherregal und zuletzt, wenn sie sehr viel Glück hatte, ging seine Blickrichtung flüchtig zu ihren Augen hin, bevor seine ganze Aufmerksamkeit wieder seiner Aufgabe galt.
Später, wenn ihr Vater auf der Arbeit oder auf Reisen war und sie sich allein fühlte, zog es sie in sein Studierzimmer. Auch wenn er nicht eigentlich anwesend war, so führten darin abertausende Spuren zu ihm hin. Ganz unten links, zum Beispiel, in diesem unendlichen Bücherregal, waren in zwei Reihen alle die Bücher abgelegt, die er ihr damals vorgelesen hatte. Bücher, die jetzt nicht bloß ferne und abstrakte Geschichten enthielten, sondern der Abdruck einer Erfahrung geworden waren. Sie war ja mit ihrem Vater gemeinsam in die Bilder gereist und hatte auch mit ihm gemeinsam über die zahlreichen ulkigen Sätze gelacht. Wie nah fühlte sie sich ihm in diesen Erzählungen! – Und doch war er ihr zu einem großen Teil auch ein Verborgener geblieben. Dieses Beziehungsgefühl ist als unabschließbare Suche tief in ihre Identität eingesickert und vermischte sich mit einer heimlichen Lust am Entdecken, die sich in negativer Ausprägung oftmals als Kontrollsucht zeitigte. Sie liebte es, sich in Kriminalromanen zu verlieren oder True Crime Podcasts zu lauschen. Als die Lust an ihr zu reifen begann und die Pubertät sich an ihr abspielte, trieb sie plötzlich ein neues Gefühl in sein Studierzimmer. Es waren nun nicht mehr die süßen Bildbändchen unten links, mit denen sie sich weniger alleine fühlte, sondern die anderen komplizierteren Bücher. Wahnsinnig abstrakte Werke über allerlei Themen, für die Erwachsene sich wohl interessierten: Gesammelte Schriften von bedeutenden Männern, Abhandlungen über geradezu Weltumspannendes und auch solche über Liebe, Sex und Berührung. Wenn sie diese Bücher durchforschte, hatte sie das Gefühl, einem Geheimnis auf die Schliche zu kommen. Immer wieder blitzte in ihr das warme Gefühl auf, das sie damals schon hatte, als der Blick ihres Vaters nach langer Versenkung ihre Augen streifte. Was für ein fantastisches aufregendes Zimmer!
Man kann sagen, dass sie durch all diese Erfahrungen mit ihrem, zwar weitestgehend entsinnlichtem, aber liebendem Vater eine allgemeine Lust an Abstraktem entwickelt hat. Und in einer Kultur, die abstrakte Arbeit wertschätzt, kam ihr das auch meistens zu Gute. Sie liebte es, zu lesen und in Buchhandlungen zu stöbern. All diese wunderbaren Geschichten! Nie fühlte sie sich darin alleine. Selbst die Sachbücher waren ihr kein Graus. Wenn irgendwo irgendein Wissenschaftler wieder einmal scharfzüngig eine Behauptung aufstellte, fand sie diese Kühnheit bewundernswert. Oder wenn jemand über alles schrieb, außer sich selbst: die Welt, die anderen Menschen, die Empirie, das Messbare und objektive Tatsachen. Darin war für sie keine Kühle und Entrücktheit. Im Gegenteil! Überall dort wartete auf sie das warme Gefühl aus ihren frühen Kindheitstagen, das der flüchtige Blick ihres Vaters in ihr ausgelöst hatte.
Er dagegen hatte ein ganz anderes Verhältnis zu Abstraktem. Sein Vater war in allem stets berührbar und sprach durch seinen Körper. Wie denn auch sonst? Er war einer jener bildungsfernen Männer, die ihre Gefühle ausagierten statt sie zu verschließen. Meistens war es nicht so wichtig, was gesagt wurde, sondern wie es gesagt wurde. In welchem Ton, mit welcher Haltung und in welcher Mimik. Durch diese Art seines Vaters hat er viel gelernt. Kein Wissen, das ihm besondere Wertschätzung brachte oder das ihm sonst wie entlohnt wurde, aber eines, das ihm das Leben näherbrachte. Bücher waren ihm in erster Linie bedrucktes Papier. Manche rochen sehr gut. Andere, die durch viele Hände gegangen waren, verströmten einen strengen Geruch. Eine Freundin lobte ihn einmal, dass er so achtsam sei. Ein anderer Freund, ein Philosophiestudent, warf ihm dagegen vor, ein Hedonist und Materialist zu sein. Er fand das Wort irgendwie schön: »Ma-te-ria-list«. Wenn er sich einsam fühlte, besonders in seiner Kindheit, verlor er sich in der Natur. Er beobachtete Raupen, die an Blättern knapperten, den Wind, wie er die Baumkronen wiegte, und durchlebte alle anderen Klischees der Naturbeobachtung, die in Worten ausgedrückt immer irgendwie lächerlich und kitschig daherkommen.
Doch am meisten liebte er die Stille. Wenn er sich so ganz verlor, in den einzelnen unendlich feinen Bewegungen der Raupenbeine oder dem harmonischen Tanz der Baumkronen, dann glitt seine sinnliche Empfindung, hin und wieder, zu dem Ursprung dieser Phänomene hinab und er wurde Zeuge, wie aus der Leere Form wurde. Was natürlich in Worten ausgedrückt, äußerst abstrakt klingt, um nicht zu sagen, pathetisch. In Anbetracht seiner Empfindungen war diese Stille aber die reine Sinneserfahrung.
Irgendwann zeigte ihm seine Freundin das Studierzimmer ihres Vaters. Mit leuchtenden Augen führte sie ihn hinein zum unendlichen Bücherregal. Ihre flüsternde Stimme versuchte das Geheimnis dieses Ortes zu bewahren. Und irgendwie schien das begeisterte Kind in ihr durch, als sie sich in den Schneidersitz begab, um ihre Lieblingsbücher um sich herum zu versammeln. Letztlich war es ihm aber unmöglich, ihr in diese Welt zu folgen. Er sah ihre Augen und ihre flüsternden aufgeregten Lippen verrieten, dass sie sich hier in vielerlei Hinsicht berührt fand. Ihre wild und doch vorsichtig gestikulierenden Hände zeigten, dass auch sie sich berührend streckte und nach irgendetwas griff. Das war ein schöner Anblick! Aber das Zimmer an sich war ihm ein trostloser Ort. So viel Lebenstrieb verdunstet in einer Scheinwelt. So viele Chancen, sich wirklich zu fühlen, die in bedrucktem Papier versiegten.
Als er seine Freundin auf den Graben ansprach, den er zwischen ihnen empfand, so teilte sie seine Empfindung. Für ihn waren ihre Wort- und Buchwelten von einer unheimlichen Kälte umgeben. Für sie war in seinem Schweigen eine unheimliche Leere. Sie fühlte in sich nun den starken Drang, ihr Wissen zu dieser Beobachtung zu teilen. Sie versuchte ihn mit einem Ausspruch Rainer Maria Rilkes zu trösten, dass sie sich gegenseitig Beschützer ihrer jeweiligen Einsamkeit sein könnten und zeigte ihm ein surrealistisches Bild von René Magritte. Sie erklärte, dass die biblische Geschichte des Turmbaus zu Babel schon vom entfremdeten Verhältnis der Menschheit erzähle. Und dass, psychoanalytisch betrachtet, ein gelungenes Containing der Gefühlsregungen das Zusammenkommen der Menschen in Worten begünstigen könne. Wieder leuchteten ihre Augen, als sie ihm davon erzählte. Wieder empfand sie dabei ein warmes Gefühl, wobei er sich nach einer wortlosen Berührung sehnte. Leise, beinahe unmerklich, schlich sich sein kleiner Finger an ihren heran und streichelte zart über ihre Haut, während sie begeistert ihren nächsten Einfall aussprach.