Als ich von David Lynchs Tod erfuhr, war ich zutiefst betroffen. Ich bin es noch immer. Seine Filme haben meine Jugend geprägt, mich zu eigenen Hobby-Filmproduktionen inspiriert. So sehr entsprachen diese assoziativen Traumwelten einem großen Bereich meines eigenen Empfindens. Warum muss ein Film logisch kohärent sein, warum muss er Sinn ergeben, eine nachvollziehbare zeitliche Abfolge besitzen und so viele weitere Realitätsprinzipien erfüllen?
David Lynch umgab immer schon die Aura des Träumerischen. In Interviews schloss er die Augen, wackelte mit den Fingern, als wolle er die starre Welt zum Zittern und Fließen bringen. Und er brachte sie zum Zittern und Fließen.
Die westliche, sehr verkopfte Philosophietradition, ist – in den meisten Fällen – nicht besonders aufmerksam für verschiedene Zustände des Bewusstseins. Da gibt es eben den Wachzustand und Abends lege ich mich schlafen. Vielleicht erinnere ich mich dann noch an ein paar Träume, überschüssiges Neuronenfeuer, oder Resteverwertung des Tages. Die Wertung ist eindeutig: Der Wachzustand ist das, worauf wir uns verlassen können, wo sich das eigentliche Leben abspielt. Er ist Wahrheit und Wirklichkeit. Der Schlaf ist im schlimmsten Fall und im Zeichen kapitalistischer Logik ein notwendiges Übel, so wie das Laden des Smartphones.
Fernöstliche Weisheitstraditionen, die das Bewusstsein viel feinsinniger und ganzheitlicher beobachtet haben, unterscheiden im Großen und Ganzen zwischen fünf verschiedenen Zuständen, von denen die ersten drei für uns Westler noch nachvollziehbar sein dürften:
- Wachzustand
- Traumzustände
- Traumloser Schlafzustand
- Zustände, in denen wir Zeuge sind
- Nichtduales Gewahrsein
Dabei ist hier die Wertung umgekehrt: Der Wachzustand ist ein kleiner, äußerst instabiler und illusorischer Teil des Ganzen. Traumzustände, da, wo es zu flirren beginnt, wo die hart umgrenzte Welt des Tages sich bedeutungsvoll potenziert und verflüchtigt, sind nicht einfach Abfallprodukte oder verunstaltete Chiffren für ein Pendant des Wachzustands, sondern ein für sich wichtiger Bestandteil des Lebens. Der traumlose Schlafzustand ist schon schwerer von innen heraus wahrzunehmen, weil hier meist die Bewusstheit fehlt. Noch schwieriger ist es mit den Zuständen in 4. und 5.
Eine verkopfte Gesellschaft, die alles, was sich unterhalb des Halses kundtut wie ausgeblendet hat, die gewohnt ist in Einsen und Nullen und deutlichen Grenzlinien zu denken, hat auch das Gespür für die Übergänge zwischen den Zuständen weitestgehend verloren. Dass, solange die Augen geöffnet sind und die Sonne den Tag erhellt, nur der Wachzustand vorherrscht, gehört zum Selbstbetrug einer instinktverleugnenden Gesellschaft. – Nichts ganz. Denn im Kino dürfen wir träumen.
Noch ein bisschen sitzen bleiben und mit dem Abspann sanft in die Welt des Tages zurückgeführt werden. Im gleißenden Sonnenlicht, draußen vor dem Kino, wirkt alles noch ein wenig unecht. Ein dunkler Raum und die projizierten Bilder, die einen kollektiven Traum ermöglichen. Aber natürlich rituell abgeriegelt und auf das Kino beschränkt. Ich denke, es braucht Künstler oder Schamanen wie David Lynch, die mit den Fingern auf die Übergänge hinweisen, die eine tagbesessene Kopfgesellschaft von ihrer neurotischen Sonnensucht befreien. Wer sich in Traumzuständen verliert, ist ganz klar entrückt, vielleicht sogar krank. Ich denke das gleiche gilt aber auch – selbst wenn es die Regel ist – für alle, die sich in Wachzuständen verlieren und an das Träumen nur noch wage in Romanen und Filmen erinnern.
Die Grenzen sind nicht so eindeutig. Auch wenn die Erkenntnis darüber mit Angst einhergehen mag. Wer in seinen Bauch zu spüren beginnt und sich ein Stück weit von der verriegelten Insel der rationalen Eindeutigkeit entfernt, der kommt unweigerlich auch in Berührung mit archaischer Angst. Aber auch mit archaischem Genuss oder archaischer Liebe.
Hin und wieder passiert es, dass – mit mehr oder weniger Verständnis – schamanenhafte Traumkünstler die Bühne der Öffentlichkeit betreten dürfen. Und es ist umso rührender, wenn sie es, wie David Lynch, schaffen, ihr Gesicht zu wahren, bis die Haare weiß geworden sind, und unbeirrt entgegen aller allzu wachen Vernunft die Welt heilsam auf den Kopf stellen.