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Bittersweet

Es gibt Momente, die so zart und flüchtig sind, dass es einem das Herz zerreißen möchte. Zum Beispiel heute der erste lauwarme Frühlingsregen. Eine dünne Schicht von Nässe bedeckt kaum sichtbar das satte Grün neben den gepflasterten Wegen. Der Geruch ist unverwechselbar. Einerseits steigt einem eine süße Schwüle schwer in die Nase, andererseits wirbeln die eiligen Frühjahrspflanzen ein Gemisch der Leichtigkeit umher. Altes wird abgeworfen, Neues kündigt sich an.

Kürzlich war ich in der Notaufnahme. Nichts Alarmierendes, sondern eine leicht zu behandelnde Nagelbettentzündung, führte mich dorthin. Überall Bewegung. Gewusel. Mitarbeitende aller Fachrichtungen stürmten durch die Gänge, blaue Sirenen, Betten mit versehrten und kranken Menschen auf den Gängen. Ein Wartezimmer voller schmerzverzehrter Gesichter. Ein kreischendes Baby, das bald schon gestillt zur Ruhe finden sollte. Eine schwangere Frau mit gebrochenem Arm, die stoisch ausharrte, während ihr Freund oder Mann viel zu lange an seiner Uhr herumdrehte. Eine alte Dame mit einem Unterarm, der – so schien es – mehr als nur einen außerordentlichen Bogen machte. Die Dame harrte dort Stunden aus, mit einem Gehör, das längst schon viel zu schlecht war, um die Aufrufe der Sprechanlage noch zur Kenntnis nehmen zu können. Und für den Fall, dass sie ihren Aufruf anderweitig mitbekam, so wäre die zweite Hürde, im Wirrwarr des Krankenhausalltags und seiner Architektur irgendwie den Überblick zu behalten. Sie war sehr verwirrt, oder eben sehr aufgeregt und durcheinander. Nachvollziehbar!

Von einem Wartezimmer ins nächste geschickt, zu dritt oder zu viert zur Blutabnahme weitergeleitet, fand ich mich immer wieder mit jener schrunzeligen alten Dame zusammen, die dann auch, hinter ihren Zornesfalten, für einen kurzen Moment einen Anflug von Güte zu verspüren schien: »Na, so sehen wir uns wieder.«

Ich hatte das Gefühl, die Mitarbeitenden des Krankenhauses waren besonders schroff zu ihr. Nicht bloß, weil ihre verwirrte und schwerhörige Art den reibungslosen Ablauf zu stören schien, sondern, weil sich in ihrem Gesicht Verbitterung und Kälte zeitigte. Es war die Art von Ausdruck, die mehr als eine Auskunft über die Stimmung des Tages oder der vergangenen Woche gab. Es war ein Gesicht, so schien es, dass von Jahren der Verbitterung und Ablehnung gezeichnet wurde und aus einer sich verfestigten Disposition hervorgegangen ist.

Die Frau wirkte einsam, ziellos und von den feinen Geräuschen der Welt schon weitestgehend abgeschottet. Und doch ließ sich hinter dem monotonen rauen Ton ihrer Stimme, hinter ihrer verbitterten Fassade, eine fast schon verwelkte Sehnsucht nach Verbindung erahnen. »Na, so sehen wir uns wieder«. Ein luzider Satz, wo doch jedes Erkennen ein Widersehen ist.

Es gibt flüchtige Begegnungen, die vorüberziehen wie ein rasch sich auflösender Nebel am Morgen. Wiederum andere Begegnungen, die ebenso flüchtig sind, ziehen kaum vorüber. In einer Sekunde kann, auf eine bestimmte Art, mehr passieren als in 13 Jahren.

Das ist natürlich eine poetische Weltsicht. Vermutlich war die griesgrämige alte Dame einfach nur genau das: eine griesgrämige alte Dame. Das verletzte, sich nach Verbindung sehnende Kind in ihr, das sich für den Bruchteil einer Sekunde in ihren Falten abzuzeichnen schien, in ihrem ablehnenden Ton kurz sich hinzumischte, in Wirklichkeit eine Illusion oder ein vergrabenes Relikt der Vergangenheit. Ist es besser, jemanden als das zu sehen, was er darstellt oder als das, was er ist oder sein könnte? »Na, so sehen wir uns wieder«.