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Ahnen

Sie hat sich nie wirklich getraut, ihre Mutter genauer darüber zu befragen, wer denn nun ihr leiblicher Vater sei. Zu sehr legten sich, bei ihren bisherigen zögerlichen Versuchen, hier eine Antwort zu erfragen, dunkle Wolken um alle Gesichter. Sie wollte sich dann auch nicht mehr damit beschäftigen, denn die Leere der verdunkelten Gesichter löste in ihr nur mehr das Gefühl aus, sich an das Leben zu hängen und überall dorthin zu gehen, wo es lebendig wurde. Immer wenn sie dann doch den unerklärlichen Drang danach verspürte, ihrer Mutter eine Geschichte abzuverlangen, entstand diese rätselhafte – einem Gedankenstrich ähnelnde – Pause.

Früher fand sie es immer eigenartig, wenn irgendein Erwachsener in hohem Alter damit begann, Ahnenforschung zu betreiben. Was wie ein skurriles Hobby daherkam, war ja in der Wurzel oft die Auflehnung gegen die eigene Sterblichkeit und der klägliche Versuch, diesem nun immer aufdringlicheren Gedanken irgendwie doch Herr zu werden: mit der Ausweitung des eigenen Lebensbaums zu den Ästen der Vorfahren hin. Sowas kann in jungen Jahren durchaus lächerlich daherkommen. Später wird es verständlicher. Wenngleich man sich hierum nicht betrügen muss: dadurch »die Geschichte zu verstehen« oder »die Generationen zu heilen«, ist letztlich doch nur der grandiose Deckmantel für ein skurriles Hobby in Anbetracht der eigenen dringlicher werdenden Endlichkeit. Das ja auch auf einem sehr verhärteten Verständnis von Kausalität beruht.

Er dagegen hat sich in so frühem Alter überhaupt nicht damit beschäftigt, warum die Erwachsenen das tun, was sie tun. Ihm waren die Großen sowieso wie eine wandelnde Skurrilität vorgekommen, Ahnenforschung hin oder her. Er erinnert sich noch an die Hasenzucht seines Onkels. Im Garten wurden Käfige aufgebaut. Hier die Männchen, da die Weibchen. Dann wurden gesunde und starke Exemplare ausgewählt und in einem weiteren Käfig zusammengeführt, um Kinder zu machen. Das alles war schon sehr skurril.

Vielmehr interessierte er sich für sie, als für irgendwelche Fragen um Väter und Mütter. In ihrer Nähe hatte er von Anfang an gleich das Gefühl, ganz er selbst sein zu dürfen. Sie konnten sich tagelang in ausgeklügelten Fantasiewelten aufhalten, ohne ein Gefühl des Überdrusses zu verspüren. Beim Versteckspiel teilten sie sich stets das Versteck, während sie dann und wann Stunden ausharrten, um nicht gefunden zu werden. Sie hörten nicht auf, umeinander und miteinander ganze Universen zu ergründen. Nicht, weil sie beide so einfallsreich und fantasievoll gewesen wären, sondern weil es sich ganz einfach so ergab. Und wenn irgendwann die Eltern zum Abendbrot nach Hause riefen, war es, als würde damit zugleich auch eine kleine Welt zu Ende gehen.

Man könnte durchaus sagen, dass sie sich liebten. Aber von solchen Begriffen hatten die beiden keine Ahnung und das war wohl auch gut so. Denn um sie herum begannen die Blumen sowieso wie verrückt zu blühen und das Leben zu sprießen, ganz unabhängig davon, was die beiden nun im Detail füreinander empfanden. Sie hatten ja auch gar nicht das Gefühl, dass es dabei um sie ging, sondern vielmehr um die Welten, die sich um sie herum bildeten und denen sie sich hingaben.

Aber über eines waren die beiden sich nun, trotz ihres jungen Alters, ganz sicher: auf irgendeine Weise verstanden zu haben, worum es im Leben ging. Sie konnten sich wortlos ansehen und wussten, dass sie – wie beim Versteckspiel – ein Geheimnis teilten, das sie stets vor den noch kommenden Stürmen des Lebens schützen würde. Und so war es auch. So heftig die Wellenschläge des Lebens auch waren: immer gab es da diesen unauslöschbaren Funken in ihnen, der aus der vagen Ahnung und fernen Erinnerung an jene Vielzahl an Welten bestand, die mal um sie herum entstanden waren. Und so sehr es ihnen auch in dieser einen Erwachsenenwelt, in die sie nun hineingewachsen waren, so vorkam, als würden Korridore sich verengen, war ihnen dennoch jenes Geheimnis des Lebens ganz und gar bewusst geblieben. Selbst dann noch, wenn ernste Mienen von Verwandten über Geburtsurkunden von Ahnen grübelten.

Viele Jahre später, wenn er das Bett mit einer Frau teilte, war es wieder ganz natürlich, dass eine Vielzahl an Welten sich auftat. Es brauchte auch niemand Blüten zu verstreuen. Es war wie mit jenem Geheimnis aus Kindertagen, dass die Liebe zum Leben sich ihre Bahnen schon suchte und das Bett mühelos zum Schiff verwandelte, auf dem die Liebenden zusammenfanden. Was für ein Glück! Überall diesen Keim des Lebens wiederfinden zu dürfen. Wie dankbar war er dem Geheimnis gegenüber, das es sich ihnen damals offenbart hatte. Wie dankbar war er, bis heute, ihr gegenüber, dass er dieses Geheimnis mit ihr teilen durfte. Wie unendlich dankbar war er für ihr Dasein! Nicht, weil sie irgendwoher kam oder irgendetwas geworden war, sondern schlicht, weil es sie gab, und weil das Leben sich damals an ihnen auf diese Weise abgespielt hat.